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Reihe "100 Jahre" / Seit 1927 schießt die münstersche Uni-Medizin den Vogel ab – mit einem eigenen Schützenverein
Münster (mfm/sw) – Was haben ein Chirurg und ein Schütze gemeinsam? Beide brauchen Geschick und eine ruhige Hand. Das ist es aber auch schon, was die aus dem Mittelalter stammende Tradition mit dem Dasein als Mediziner verbindet - sollte man meinen. Das haben Karl Döhring als erster Vorsitzender und seine Mitstreiter vor knapp hundert Jahren anders gesehen, als sie den Schützenverein der münsterschen Universitätskliniken gegründet haben. Der ist auch heute noch aktiv: Auch wenn Mitgliederschwund – wie in den meisten Vereinen – über die Jahre nicht ausblieb, treffen sich die Schützen, oft Ehemalige der Uniklinik oder Medizinischen Fakultät der Universität Münster, noch regelmäßig auf dem Campus - ohne Schusswaffen. Die sind dort längst nicht mehr erlaubt.
Schmeddingstraße 62: Hier hat der Verein sein Zuhause – allerdings erst seit dem Jahre 2011. „Wir sind schon häufig umgezogen auf dem Klinikgelände“, erzählt Ehrenvorsitzender Wilhelm Dahlmann, der von 2003 bis 2018 an der Spitze des Vereins stand. „Anfangs hatten wir unseren Luftgewehr-Schießstand noch in einem Schwesternhaus in der Nähe, jetzt sind wir ein paar Häuser weitergezogen.“ Udo Lübbe, derzeit erster Vorsitzender, ergänzt: „Das haben wir dem kaufmännischen Direktor der Uniklinik, Dr. Christoph Hoppenheit, zu verdanken, der uns noch heute unterstützt“. Geschossen wird in der neuen Heimstatt nicht mehr - Grund dafür ist keineswegs fehlende Motivation oder Lust auf das traditionelle Sportschießen, sondern das im Jahr 2011 eingeführte Verbot von Schusswaffen auf dem Gelände des Universitätsklinikums.
Das jährliche Vogelschießen um den Königs- und Kaisertitel mit dem Kleinkaliber-Gewehr hat immer in einer Gaststätte - die über eine Vogelstange verfügte - stattgefunden. Zwischenzeitlich hatte der Verein eine selbstgebaute Stange in der ehemaligen Gaststätte Kinderbach; seit einigen Jahren werden die Titelkämpfe in der Gaststätte Vennemann ausgetragen. Für die ursprüngliche Vereinslokalität und das wöchentliche Zusammenkommen hat der Verein jedoch eine andere Lösung gefunden: Dartspielen.
Die einen veranstalten Weihnachtsfeiern, die anderen gründen einen Schützenverein – für mehr Zusammenhalt in der Belegschaft kann man auch auf ungewöhnliche Maßnahmen zurückgreifen. Genau das war die Motivation der Gründergruppe, die – so heißt es in der Festschrift zum 75. Vereinsjubiläum – die „kameradschaftliche Betriebsgeselligkeit“ zu pflegen versuchte. Begonnen hat es mit zehn Kollegen – der Zeit entsprechend alle männlich – des münsterschen Uniklinikums, die im Juni 1927, jeweils mit einem geliehenen Luftgewehr ausgestattet, den ersten Schützenkönig Karl Döhring ermittelten und mit der Königskette ehrten. Ein Jahr später kamen weitere 20 Schützenbrüder hinzu – und das nicht nur aus der Uniklinik, sondern auch den Instituten der Medizinischen Fakultät, mit deren Gründung 1925 die Geschichte der münsterschen Unimedizin begonnen hatte.
Seine Hochzeit erlebte der Verein in den 1950-er Jahren, als die Mitgliederzahl auf knapp 150 anstieg. Während die Schützenbrüder zu Zeiten des NS-Regimes auf einige Traditionen verzichten mussten – unter anderem auf das Anmarschieren mit Marschmusik - wurden die Vereinstätigkeiten während der Kriegsjahre komplett eingestellt. „Auferstanden“ ist der Verein durch einen ungewöhnlichen Fund: Die alte Königskette, die bei jedem Schützenfest dem neu gekürten König übergeben wird, wurde nach Jahren des Stillstands wiederentdeckt – und das ausgerechnet auf dem Dachboden des Kliniken-Tierstalls. Heute, knapp 100 Jahre später, schmückt dieselbe Kette weiterhin den jeweiligen Schützenkönig. Allerdings: Während die gängige Schützentradition ein Wettschießen zur Ermittlung des Königs vorsieht, war dies dem Verein in der ersten Nachkriegszeit verwehrt. Not macht erfinderisch - und so kürten die Schützenbrüder – und bald auch -schwestern – ihren König zeitweise durch ein Königskegeln, bevor sie wieder in bekannte Gefilden zurückkehrten. Nach 66 Jahren Vereinsgeschichte, im Jahr 1993, schaffte es die erste Frau aufs Podest und schoss sich zum Königinnentitel: Gudrun Kriesel.
Vereinssterben macht auch vor dem Schützenwesen nicht Halt: Aktuell zählt der Verein noch knapp 50 Mitglieder; das Durchschnittsalter liegt bei etwa 61 Jahren. Wie neue Mitglieder gewonnen werden? „Meist läuft das über die Familie, Freunde oder Bekannte: War der Vater und Großvater schon im Verein, ist der Weg zur eigenen Mitgliedschaft nicht weit“, antwortet Dahlmann, der selbst seit über 50 Jahren Mitglied – und seit 2018 Ehrenvorsitzender - des Vereins ist. Die übrigen Mitstreiter zelebrieren das jährliche Schützenfest und die dazugehörigen Traditionen dafür umso mehr – ein Grund zur Sorge bezüglich einer Auflösung besteht also noch nicht.
Allein das Münsterland zählt rund 110 Schützenvereine – in Westfalen gilt das Schützenwesen als feste Tradition, die hier eine Hochburg hat; fast jedes Dorf kann einen eigenen Verein vorweisen. Dass jedoch ein Standort der Universitätsmedizin einen eigenen Schützenverein stellt, das dürfte es nirgends sonst geben. Karl Döhrings Vision eines betrieblichen Vereins zur Förderung des Zusammenhalts ist auch durch einen Weltkrieg und andere Krisen nicht untergegangen – im Gegenteil.