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Wenn Spermien vom Weg abkommen: WWU Münster ist Ort der Spitzenforschung zur männlichen Fruchtbarkeit

Masterstudentin Ines Ansmann begutachtet eine hochauflösende Analyse eines menschlichen Spermiums (Foto: WWU/MünsterView)

Frank Tüttelmann, Timo Strünker und Stefan Schlatt (v.l.) (Foto: WWU/MünsterView)

Münster (upm/sw) - Im Märchen muss der Königssohn meist drei Aufgaben lösen, um die Hand der Prinzessin zu erringen. Das ist aber gar nichts im Vergleich zu den Herausforderungen, die Spermien auf dem Weg zur Eizelle erwarten. Oder sogar zunehmend häufiger zum Scheitern bringen: Manchen Studien und Medienberichten zufolge ist die männliche Fruchtbarkeit grundsätzlich in Gefahr. Trotzdem spüren nur wenige Einrichtungen den genetischen und molekularen Ursachen der Spermiendefekte nach – und eine der wichtigsten ist in Münster angesiedelt.

Das Centrum für Reproduktionsmedizin und Andrologie (CeRA) gehört zum Universitätsklinikum und der WWU und setzt vor allem auf Translation, also die Übertragung wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis. „Wir haben eine lange Tradition und sind mittlerweile eine Art Aushängeschild“, sagt Professor Stefan Schlatt, der die Einrichtung leitet. „Es geht uns um konkrete Fragestellungen in der Reproduktionsmedizin und den Kinderwunsch unserer Patienten. Damit sind wir in Europa ganz vorn dran, möglicherweise sogar weltweit an der Spitze.“

Dabei hilft, dass das CeRA breit aufgestellt und gut vernetzt ist. So gehört neben dem Institut für Reproduktions- und Regenerationsbiologie sowie der Abteilung für Klinische und Operative Andrologie auch – in Kooperation mit der UKM Frauenklinik - das Universitäre Kinderwunschzentrum dazu. „Eine Professur zur Reproduktionsmedizin wird in Kürze folgen“, sagt Professor Frank Tüttelmann, Direktor des neuen und thematisch eng verbundenen Instituts für Reproduktionsgenetik.

Die interdisziplinäre Herangehensweise von Mediziner mit Physikern, Chemikern und Biologen sowie Experten in computergestützten Verfahren ist nötig, weil Spermien im Körper der Frau eine Art Zehnkampf ohne zweite Chance absolvieren müssen. Entsprechend vielfältig sind ihre Aufgaben und die möglichen Defekte. So müssen Spermien zunächst das ungemütlich saure Vaginalmilieu überstehen und die Schleimbarriere des Gebärmutterhalses durchdringen. Dem schließt sich eine lange Schwimmstrecke durch den Uterus und Eileiter an.

Selbst wenn das Ziel erreicht ist, müssen sie die Spermien aber noch der Eizelle als geeignete und artspezifische Kandidaten präsentieren und mit einer letzten hyperaktiven Anstrengung durch die Eihülle in die Eizelle eindringen. Diese harte Selektion mag übertrieben scheinen, ist biologisch aber äußerst sinnvoll – als Qualitätskontrolle. Was aber, wenn immer weniger Anwärter dem gewachsen sind? Dann bleiben Kinderwünsche unerfüllt, was als männliches Problem lange tabu war, sich aber nicht länger ignorieren lässt.

„Wir müssen nicht befürchten, dass wir uns in Kürze abschaffen“, betont Professor Timo Strünker, der untersucht, wie sich Spermien orientieren und so ihren Weg finden. „Die Weltbevölkerung wächst stetig weiter an.“ Trotzdem gebe es Sorge um die Fruchtbarkeit, weil sich die Zahl und Qualität der Spermien bei Männern in der westlichen Welt reduziere: „Und dem müssen wir natürlich nachgehen.“

Weil die Bildung und Funktion von Spermien so komplex sind, kann es aber weder schnelle Antworten noch einfache Lösungen geben. Noch werden auch viele mögliche Ursachen der Spermienkrise diskutiert, etwa Umweltfaktoren, die das Hormonsystem stören. Unabhängig von der vermeintlichen Spermienkrise gibt es einen kritischen Faktor: das Lebensalter. Die Fruchtbarkeit nimmt bei Paaren mit den Jahren ab. Trotzdem bekommen vor allem Menschen im Westen ihr erstes Kind immer später.

Oder sie versuchen es zumindest: Klappt es nicht mit dem Kinderwunsch und scheint die Fertilität der Frau intakt, werden die Männer bei der Suche nach Antworten und Hilfe oft auch in Münster vorstellig. Hier stehen dann einige Untersuchungen an: Sind genügend Spermien vorhanden? Sind sie wohlgeformt? Können sie sich richtig bewegen? Wenn es hier hakt, können die Spermienprofis dies oft schon beim Blick ins Mikroskop feststellen.

Andere Funktionen müssen gemessen werden. Dann zeigt sich vielleicht, dass der Spermienschwanz einen Tick zu schwach, zu langsam oder unrund schlägt. Vielleicht versagt auch der Sensor, der den Spermien hilft, die Eizelle über ein bestimmtes Hormon zu lokalisieren. Strünkers Team hat ihn im Detail entschlüsselt, was Jahre in Anspruch nahm. Denn auch wenn Spermien anderen Zelltypen grundlegend ähneln, haben sie für viele Zellbausteine eigene Varianten entwickelt.

Erkenntnisse und Methoden aus anderen Bereichen lassen sich also nur bedingt auf Spermien übertragen und anwenden – was den Wissensgewinn oft verzögert. Selbst wenn aber ein Defekt bekannt und im konkreten Fall nachgewiesen ist, muss oft offenbleiben, warum es zur Fehlbildung kam. Die Antwort darauf findet sich im genetischen Material der Spermienvorläuferzellen: Welche Mutation im Erbmolekül DNA verhindert dass Spermien in ausreichender Zahl heranreifen und funktionstüchtig sind?

Diesen Fragen geht das Team um Professor Frank Tüttelmann nach. „Unser übergeordnetes Ziel ist, mehr Männern eine genetische Diagnose geben zu können, ihnen also ganz konkret erklären zu können, warum sie unfruchtbar sind.“ Letztlich sollen alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über individuelle Diagnosen auch zu maßgeschneiderten Therapien führen, die Lücke zwischen Forschung und Praxis also geschlossen werden. Das ist ein weiter Weg, aber es ist wohl keiner so gerüstet für diese Herausforderung wie der Standort Münster.

Erstes Institut für Reproduktionsgenetik

Die Universität Münster ist seit Langem ein europaweit einzigartiger Standort für die Forschung zur Fruchtbarkeit. Dazu trägt maßgeblich die im Jahr 2016 eingerichtete klinische Forschungsgruppe Male Germ Cells: from Genes to Function bei. Sie wird von Frank Tüttelmann geleitet, dem bislang einzigen Professor für Reproduktionsgenetik in Deutschland. Übergeordnetes Ziel der Gruppe ist es, die genetischen Ursachen männlicher Unfruchtbarkeit zu entschlüsseln, um präzise Diagnosen stellen und die Behandlung der betroffenen Männer verbessern zu können.

Der multidisziplinäre Ansatz der Gruppe, der Klinik und Forschung eng verknüpft, wurde dieses Jahres bestätigt: Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) sagte eine Weiterförderung zu – im September erfolgte die Gründung des deutschlandweit ersten Instituts für Reproduktionsgenetik. Das sind nach Überzeugung der Wissenschaftler wichtige Schritte auf dem Weg, den genetischen Ursachen der Unfruchtbarkeit auf den Grund zu gehen. Frank Tüttelmann ist jedenfalls optimistisch: „Wir sind sicher, dass die kommenden Jahre viele neue Erkenntnisse in der Forschung zur Reproduktionsgenetik bringen werden.“    Susanne Wedlich (Quelle: WWU-Zeitung wissen|leben, Nr. 6/2020)

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