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Wie verlaufen Infektionen mit Covid & Co.? Forscher entwickeln mit Stammzellen ein Simulationsmodell zu den Wirkmechanismen

Arbeitsgruppen-Leiter Prof. Guiscard Seebohm am Zwei-Elektroden-Messplatz (Foto: FZ/M. Thomas)

Münster (mfm/sw) – Es ist nur ein 120 Millionstel Millimeter groß und legt doch ganze Staaten lahm: das Corona-Virus. Selbst wenn es eines Tages wieder verschwinden würde: Virale Infektionen werden auch danach zu den häufigen und schwierig zu behandelnden Erkrankungen des Menschen gehören. Selbst jahrzehntelange Forschung hat nur wenige standardisierte Impfstoffe und Behandlungsstrategien gegen eine nur geringe Zahl von Viren hervorgebracht. Auch die viralen Wirkungsmechanismen sind bislang kaum erforscht – ein Grund für Prof. Guiscard Seebohm und seine Arbeitsgruppe (AG) an der Universität Münster, sich genau diesem Thema zu widmen. Jetzt ist dem Team eine bahnbrechende Entwicklung gelungen. Die AG hat ein Virus-Expressionsmodell aufgebaut, mit dem sich eine Vielzahl viraler Infektionen simulieren und analysieren lässt – auch die mit SARS-CoV-2. Die Ergebnisse sind in der aktuellen Ausgabe des „Nature“-Journals „Scientific Reports“ nachzulesen.

Deutlich weniger bekannt als SARS-CoV-2, aber auf die gleiche Weise übertragbar, ist das Coxsackievirus B3 (CVB3). „Seine Symptome ähneln meist der einer Grippe, so auch die Erholungsdauer - nach zwei bis drei Wochen ist der CVB3-infizierte Patient in der Regel wieder gesund, meist ohne offensichtliche Langzeitschäden“, erläutert Prof. Seebohm. Aber eben nicht immer, ergänzt der Leiter der Abteilung „Zelluläre Elektrophysiologie und Molekularbiologie“ des Instituts für Genetik von Herzerkrankungen:  Neben Akut-Infektionen berge eine virale Infektion auch die Gefahr einer chronischen Infektion – die Folge: eine kontinuierliche Schädigung bestimmter innerer Organe, die zum Tod führen kann. So können nach Monaten oder gar Jahren bei einigen der früheren CVB3-Patienten Herzmuskelentzündungen auftreten oder auch Diabetes Typ I. Histologische Untersuchungen bei Betroffenen zeigten teils gravierende Schäden in der Gewebsstruktur. Und: Auch noch Jahre nach der akuten Infektion belegen Gewebeanalysen das Vorhandensein viralen Erbguts.

Wie es zum chronischen Verlauf einer CVB3-Infektion kommt und wie eine akute Infektion genau verläuft, ist bis heute unzureichend untersucht. Der AG Seebohm ist in dieser Hinsicht ein großer Schritt nach vorn gelungen: Das Team entwickelte ein auf Stammzellen basierendes Expressionsmodell für CVB3, um den Wirkmechanismen dieses Virus – als Prototyp für Virenwirkung allgemein - auf den Grund zu gehen. Das Modell wurde in einer Studie auf dessen Kontrollierbarkeit in aus Stammzellen gezüchteten Herzmuskelzellen untersucht. Dabei konnte die Forschungsgruppe die Erbinformation einer nicht-infektiösen Variante des CVB3 stabil in das Erbgut humaner Stammzellen integrieren. Letztere können im Labor in beliebiges menschliches Gewebe umgewandelt werden und ermöglichen die präzise Erforschung viraler Mechanismen. Mithilfe eines chemischen Signals kann die Expression von CVB3 gezielt eingeschaltet werden.

„Durch dieses einzigartige humane stammzellbasierte Virus-Expressions-System lässt sich eine Vielzahl von Krankheitsverläufen simulieren und erstmals mit höchster Präzision analysieren“, freut sich Seebohm über den Erfolg. Ebenfalls wichtig nach Angaben des Biologen: Das System ist vollständig kontrollierbar. Der Forschungsgruppe gelang es, im Expressionsmodell die CVB3-Expression sowohl in Stammzellen als auch in differenzierten Herzmuskelzellen zeitlich zu steuern. Zugleich konnten die Wissenschaftler die Menge an produzierten viralen Proteinen und deren Lokalisation variieren. Das bedeutet: Sowohl das Ausmaß der Virusinfektion, das Infektionsmuster als auch der Zeitverlauf können den jeweiligen wissenschaftlichen Fragestellungen angepasst werden.

Durch die Generierung des ersten voll kontrollierbaren Virus-Expressionsmodells in humanen Zellen, dessen erwiesene Funktionalität und die Übertragbarkeit auf den Patienten eröffnen sich zahlreiche neue Ansätze für die Forschung. Nicht nur lässt sich nun die Infektion mit CVB3 und anderen Viren, wie Corona- und Influenzaviren, mit höchster Auflösung untersuchen: Die Grenzen des wissenschaftlich erforschbaren Bereiches können durch diesen neuen Ansatz erweitert werden. Folgestudien zur kontrollierten Expression von CVB3 in hiPSC sind bereits in Arbeit und zeigen vielversprechende Resultate. Dr. Stefan Peischard, Erstautor der jetzt publizierten Studie, und seine Teamkollegen von der AG Seebohm erhoffen sich letztlich auch einen großen Nutzen für betroffene Patienten.

Link zur Publikation: www.nature.com/articles/s41598-020-72966-9

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