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Recht auf eigenen Willen trotz Demenz: Studie zu der Frage, wie Patientenverfügungen bei der Entscheidung helfen

Dr. Anna Lena Uerpmann mit Prof. Benjamin Ehmke bei der Übergabe des Promotionszeugnisses (Foto: FZ / E. Wibberg)

Münster (upm/kk) - Es sind nur kurze Augenblicke, aber sie kommen vor: Momente, in denen Patienten auch in der Spätphase einer Demenzerkrankung „lebensfroh“ wirken. Sie malen, hören Musik oder streicheln ein Tier. Was ist in einer solchen Situation zu tun, wenn eine Lungenentzündung auftritt, eine Therapie mit Antibiotika laut Patientenverfügung jedoch untersagt wird? Dieser Frage ist Dr. Anna Lena Uerpmann in ihrer Dissertation an der Medizinischen Fakultät der WWU mit einer bundesweiten empirischen Studie nachgegangen: „Das Ergebnis hat uns sehr überrascht: Obwohl über alle Befragtengruppen hinweg – darunter demenzerfahrene Pflegekräfte, Ärzte und Angehörige sowie demenzunerfahrene Personen – eine sehr hohe generelle Zustimmung zur Bindungskraft von Patientenverfügungen bekundet wurde, würde rund ein Viertel der Befragten der Patientenverfügung doch nicht folgen, wenn der Patient einen ‚lebensfrohen‘ Eindruck macht“, erklärt die Medizinerin.

Diese besondere Konstellation, wenn Demenzpatienten im Voraus einen Therapieverzicht für eine indizierte Behandlung verfügt haben, aber gleichzeitig einen „lebensfrohen“ Eindruck machen, nennen Medizinethiker einen „past-directive-versus-present-interests-conflict“ (PDPI-Konflikt). Rechtlich ist die Situation geregelt: Eine Patientenverfügung ist nach § 1901a des Bürgerlichen Gesetzbuches bindend. Medizinethisch wird hingegen seit Jahren kontrovers diskutiert, ob eine Patientenverfügung Vorrang vor den aktuellen Interessen beziehungsweise vor dem sogenannten „natürlichen Willen“ haben soll oder umgekehrt. „Unsere Ergebnisse lassen darauf schließen, dass es sich bei dem PDPI-Konflikt um ein relevantes Praxisproblem handelt“, sagt die 35-Jährige.

In Deutschland leben gegenwärtig rund 1,7 Millionen Menschen mit Demenz – einer Erkrankung, die zu einem fortschreitenden Abbau der Gehirnsubstanz führt. „Besonders schlimm an dieser bislang unheilbaren Krankheit ist, dass die Betroffenen immer mehr Fähigkeiten verlieren, zum Beispiel hinsichtlich Gedächtnis, Orientierung oder Emotionsregulation“, sagt Anna Lena Uerpmann. Sie arbeitet inzwischen als Oberärztin am Klinikum Bethel in Bielefeld und erlebt täglich, wie massiv die Einschränkungen durch eine Demenz sein können. Daher hält sie es für wichtig, dass Menschen selbstbestimmt im Voraus entscheiden, welche medizinischen Maßnahmen sie wünschen oder ablehnen, sollten sie später dement werden. „Im Spätstadium einer Demenz können die Betroffenen krankheitsbedingt nicht mehr selbst entscheiden, sodass eine eindeutig formulierte Patientenverfügung vorausverfügend selbstbestimmte Lebensgestaltung ermöglicht“, erläutert sie. Die Deutsche Alzheimer-Gesellschaft empfiehlt jedoch, zum Zeitpunkt des Einsatzes einer Patientenverfügung den aktuellen Willen festzustellen und mit den seinerzeit formulierten Wünschen zu vergleichen. „Auch in der letzten Phase einer Demenzerkrankung können Betroffene eine Haltung oder Wünsche in Bezug auf medizinische Behandlung, Pflege und Versorgung haben“, sagt Sabine Jansen, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft. „Im Zweifel sollte der aktuelle Wille entscheidend sein.“

Anna Lena Uerpmann und ihre Promotionsbetreuerin Prof. Dr. Bettina Schöne-Seifert, Direktorin des Instituts für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin, halten das für ethisch problematisch. Als Kompromiss empfehlen sie, wie auch andere Experten, einen Zusatz zur Patientenverfügung, der sich auf den Fall eines PDPI-Konflikts bezieht. „Der Verfasser einer Patientenverfügung sollte den besagten PDPI-Konflikt direkt ansprechen und ausdrücklich regeln. Wir nennen das eine Meta-Direktive. So könnte eine Patientin für den Fall des ‚glücklichen Dement-Seins‘ eine Bekräftigung des Behandlungsverzichts verfügen, eine Zurücknahme des Therapieverzichts festlegen oder die Entscheidung an Angehörige oder das Behandlungsteam delegieren“, betont Schöne-Seifert. In der Befragung der münsterschen Wissenschaftler erhöhte diese Strategie die Bereitschaft, eine vorausverfügte Therapieablehnung zu respektieren, signifikant.

Auch die Bundesärztekammer vertritt die Ansicht, dass im oben skizzierten Konflikt Anzeichen von Lebensfreude in Alltagssituationen für sich genommen einen im Voraus verfügten Therapieverzicht nicht entkräften würden. Allerdings sei genau zu prüfen, ob der Patient seinen Willen inzwischen geändert habe – was, betonen Anna-Lena Uerpmann und Bettina Schöne-Seifert, erneut zu ethischen Kontroversen darüber einladen könne, was als „Willensänderung“ bei nicht mehr einwilligungsfähigen Patienten gelte.

Der Artikel erschien zuerst in der WWU-Zeitung „wissen|leben“, Nr. 5/2019.

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