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Die digitale Zukunft gestalten: WWU-Mediziner verstetigen ihre Wege in der virtuellen Mikroskopie – auch mit „Digital Histo NRW“

Der Dozent im „Kontrollraum“: Auf einem seiner beiden Bildschirme sieht Neuro-Mediziner Prof. Markus Missler Gewebeschnitte, auf dem anderen die Medizin-Studierenden, die ausschließlich virtuell anwesend sind (Foto: WWU / MünsterView)

Münster (upm) - Sophia Krahwinkel, 3. Semester Medizin, sitzt derzeit zweimal die Woche in einem dreistündigen Anatomie-Praktikum, um in die Tiefe menschlichen Gewebes einzutauchen. Virtuell, versteht sich, im Histologie-Kurs im vorklinischen Studium. Erst saß sie einige Wochen in ihrer Heimatstadt Hamburg – das Digital-Semester macht’s möglich – und lauschte den Dozenten um Neuro-Mediziner Prof. Markus Missler. Jetzt ist sie wieder in Münster im WG-Zimmer. „Hier arbeite ich konzentrierter“, sagt die 19-Jährige.

So wie die junge Studentin derzeit die Möglichkeiten und Grenzen der Onlineformate austestet, tun es – auf strategischer Ebene und mit Blick ins nächste Jahrzehnt – auch ihre Ausbilder. Markus Missler und sein Kollege, Anatomie-Prof. Hans Joachim Schnittler, haben gerade einen Schub aus Düsseldorf bekommen. Ihr gemeinsam mit mehreren Medizin-Fakultäten anderer nordrhein-westfälischer Universitäten aufgestelltes Projekt „Digital Histo NRW“ bekommt 1,5 Millionen Euro vom Wissenschaftsministerium. Die Lehrformate der digitalen Histologie (Gewebelehre) wie die münstersche „Virtuelle Mikroskopie“ bringen viele Vorteile. „Studierende können schon länger in unseren Kursen am PC selbstständig Gewebe- und Zellstrukturen analysieren, verschiedene Präparate vergleichen, hinein- und herauszoomen sowie beschriften. Ein Riesenschritt im Vergleich zu früher, als sich die Studierenden im Mikroskopiersaal über einfachste Mikroskope beugten, um einen einzigen Gewebeschnitt zu sehen“, sagt Markus Missler, der in den Kursen derzeit knapp 200 Studierende virtuell betreut. „Unsere Datenbank wächst zudem stetig um Scans von Spezialpräparaten, die früher nicht betrachtet werden konnten.“

Und nach Corona? Ist die vorklinische Phase bald nur noch digital? Sophia Krahwinkel will das nur unter bestimmten Bedingungen, denn gerade die „digitale Interaktion“ werde neben den bekannten Netz- und WLAN-Problemen immer schwieriger, je länger die Corona-Phase dauere. „Mir fehlen die sozialen Kontakte. Als ich kürzlich im Zoom-Kurs einen Vortrag hielt, sprach ich gegen eine schwarze Wand. Fast alle Kommilitonen hatten die Kamera ausgeschaltet.“ Dies sei mittlerweile zumindest bei Vorträgen und in Vorlesungen gang und gäbe. In Seminaren mit Kleingruppen-Treffen oder im Zoom-Breakout-Room sind viele Teilnehmer dagegen sichtbar - schließlich es geht um Reflexion und Diskussion.

Die Befindlichkeiten im Umgang mit den Zoom-Porträts beklagen auch die Dozenten, die in Lehrveranstaltungen mit vielen Teilnehmern mehr und mehr auf eine fast schwarze Kachel-Wand einreden. Null Reaktion, null Konferenz-Charakter. „Das Digital-Semester, in das wir mit einem ‚kräftigen Schubser‘ katapultiert wurden, ist ein zweischneidiges Schwert. Wir lernen und testen“, sagt Studiendekan Prof. Bernhard Marschall. Es gehe aber lediglich um das „Wie“, nicht um das „Ob“, denn die Vorteile wiegten schwerer. „Ein Zurück gibt es nicht. Wir müssen die digitale Zukunft gestalten, sonst gestaltet sie uns“, sagt Marschall nüchtern. Sophia Krahwinkel sieht das ähnlich: „Die Technik bietet viele Möglichkeiten. Wir müssen sie nur erkennen und erlernen. Es geht um wichtige Kompetenzen, auch abseits des Studiums.“

Die wichtigste Erkenntnis der Medizin-Professoren: Viele Online-Lehrveranstaltungen laufen besser als sie zuvor gedacht hatten. Gerade Vorlesungen oder theoretische Einführungen sind sehr gut besucht, weil die Zuhörer nicht ortsgebunden sind, und weil sie ein konzentrierteres Zuhören ermöglichen. Allerdings kommunizierten die Dozenten nur eine Richtung. In Seminaren, Kursen, Praktika besteht hingegen eine große Gefahr der Distanzierung zwischen Studierenden und Lehrenden - das bekam Bernhard Marschall nicht selten zu hören. „Oft fühlt sich keiner angesprochen in der Online-Runde. Einzelne können sich leichter entziehen.“ Dafür müsse man Lösungen finden, kündigt der Studiendekan an, „sonst verlieren wir die stillen Studenten, die unterhalb des Radars sind“. Dem oft unerwünschten Blick ins Privatzimmer könnten Studierende zum Beispiel mit selbst gestalteten virtuellen Hintergründen begegnen. Ein Weg, den auch die Dozenten aus der Anatomie gewählt haben.

Gute Ideen, die neuen Online-Formate mit Präsenzphasen in der Offline-Welt zu verbinden, sind mit Blick auf die Zukunft gefragt. Hinzu kommt: Trotz virtueller Histologie-Kurse sieht das Medizin-Studium Staatsexamensprüfungen wie das Physikum vor - und die finden nach wie vor vor Ort statt. „Die Studierenden haben dabei ein echtes Präparat in der Hand und müssen am realen Mikroskop erläutern, was sie sehen“, sagt Wissenschaftler Dr. Carsten Reissner.

(Autorin: Juliane Albrecht; Quelle: WWU-Unizeitung wissen|leben, Nr. 5/2020)

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