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Leben retten mit "Highway to hell": Studierende proben Ernstfall
Wenn Prof. Joachim Gardemann zu einer Aktion seines "Kompetenzzentrums Humanitäre Hilfe" einlädt, sind die Medizinstudenten der Universität Münster stets dabei. Das war auch am letzten Wochenende beim jüngsten Trainingscamp der Humanitären Hilfe nicht anders. Ebenfalls dabei war Isabella Glogger von der Pressestelle der FH Münster. Lesen Sie hier ihre Reportage.
Übrigens: Das nächste Trainingscamp soll, so die Idee von Prof. Gardemann, auf dem Medizin-Campus stattfinden. Interessenten können sich bei ihm melden: E-Mail.
Münster (fhms/pg) - „Anheben!“ Adrian Ploszajski wischt sich kurz mit der Hand den Schweiß von der Stirn, streift die groben Bauarbeiterhandschuhe über und stemmt das Zeltgestänge in die Höhe. Sein hellgraues T-Shirt hat sich an den Achseln dunkel verfärbt. Feuchte Haarsträhnen kleben in seinem Nacken. Unterhalb des weißen Helmes mit dem roten Kreuz an der Seite. „Plane drüber!“ Humanitäre Soforthilfe kennt kein Hitzefrei.
Auch nicht, wenn Ploszajski kein Helfer in einem Krisengebiet sondern Architekturstudent ist. Wenn kein Erdbeben den Leonardo-Campus zerstört hat. Wenn keine zehntausende Flüchtlinge auf dem Gelände der Fachhochschule Münster Sicherheit vor einem Bürgerkrieg suchen. Lazarettbetten, Notstromgenerator, Krankenwagen – alles echt. Nur der Anlass ist Schein. Es ist eine Einsatzübung des Kompetenzzentrums Humanitäre Hilfe an der Hochschule.
Jedes Semester schließt Prof. Dr. Joachim Gardemann, Leiter des Zentrums, seine theoretischen Seminare mit einer solchen praktischen Übung ab. „Unsere verschiedenen Fachbereiche decken das ganze Spektrum der technischen und personellen Kompetenzen für solche Einsätze in Forschung und Lehre ab“, sagt der Kinderarzt und Gesundheitswissenschaftler. Know-how, das das Zentrum seit 2001 bündelt und an Studierende weiter gibt. Dieses Mal sind rund 60 gekommen, um innerhalb eines halben Tages aus einer LKW-Ladung Kisten und Säcke ein mobiles Zeltkrankenhaus zu errichten. Angehende Architekten, Oecotrophologen, Pflege- und Gesundheitsmanager sowie Mediziner der kooperierenden Universität Münster arbeiten Hand in Hand. Legen Stange an Stange. So erheben sich nach und nach aus überdimensionalen Sudoku-Gittern ebensolche Insektengerippe. Mit passenden Planen versehen werden es am Ende insgesamt fünf Zelte sein. Perfekter Aufbau dank der knappen Kommandos der Helfer vom Deutschen Roten Kreuz (DRK). 20 Kameraden des Landesverbandes Westfalen-Lippe und des Kreisverbandes Münster leiten die Übung.
„Im Ernstfall ist auch keine Zeit für lange Gespräche“, sächselt Steffen Heidelberger. Den ehrenamtlichen Rotzkreuzler nennen alle nur Heidi, er selbst sich „Mädchen für alles“. Heute kümmert er sich um das Aufstellen der Feldküche. Ein 1200 Kilogramm schwerer Steckkasten im Legoprinzip. „Das Kernstück eines jeden Lagers“, erklärt der Berufskraftfahrer den Studierenden. Gegen Mittag werden die Teilnehmer merken, warum. Dann versorgt die Küche 80 knurrende Mägen mit deftiger Gemüsesuppe. Bisher steht nur das Zelt dafür. Dennoch ist Zeit für eine kurze Pause. Eine Zigarettenlänge durchschnaufen – und nachdenken. Ob sich der Masterstudent Ploszajski einen Einsatz in einer Krisenregion vorstellen kann? „Eigentlich nicht“, gesteht er und reicht nachdenklich seinen Tabak an eine Kommilitonin weiter. Trotzdem habe er viel gelernt in diesem Semester. Humanitäre Hilfe sei ein interessantes Thema. Auch für den späteren Beruf? „Weiter geht’s!“ Heidis Kommando unterbricht die Überlegungen, was ein Architekt wohl in einem realen Flüchtlingslager leisten könnte.
Was die Praxis bedeutet, weiß Gardemann aus eigener Erfahrung. Seit 1994 gehört der Hochschullehrer zur Personalreserve für die internationale Soforthilfe des DRK. Auslandseinsätze sind für den Arzt keine Seltenheit, eher Normalität: Bürgerkrieg im Sudan, Tsunami in Sri Lanka, Erdbeben in China. Die rund drei Quadratmeter große Landkarte vor dem 54-Jährigen könnte eines dieser Katastrophengebiete zeigen. Doch ist es nur ein Planspiel. Eines, das den Studierenden die Tücken beim Aufbau eines Flüchtlingslagers zeigt. Gardemann kramt hektisch in einer Kiste, hält dann triumphierend einen kleinen, blauen Holzpfeil in die Höhe. „Hier ist ja der Wind.“ Seine Richtung zu beachten, schütze vor ansteckenden Krankheiten im Lager, erklärt der Mann mit den wachen Augen hinter runden Brillengläsern und platziert das Holzstück auf dem ganz in Tarnfarben gehaltenen Spielfeld. Im Zelt jedoch steht die heiße Luft.
Die medizinische Basis ist nur eine der Säulen der Humanitären Hilfe. Bedrohte Bevölkerungsgruppen mit sauberem Trinkwasser und ausreichender Ernährung versorgen, Schutz vor Witterungseinflüssen und Gewalt bieten, alles unter völkerrechtlichen, ethischen und entwicklungspolitischen Grundsätzen, das sind die anderen. „We do not ask!“, sagt Gardemann mit fester Stimme. „Wir Helfer folgen immer dem Prinzip der Unparteilichkeit.“ Bringe ein Ambulanzfahrzeug einen Verletzten in das mobile Krankenhaus, sei völlig gleich, welche Uniform er trage. Ob die vom Feind oder die vom Freund – „We do not ask!“.
Ein verwundetes Opfer ist gerade in das grüne Zelt neben dem Planspiel eingeliefert worden. Die schneeweißen Uniformen der DRK-Hochschulgruppe Münster stechen hier aus der Masse der zivilen T-Shirts und Shorts heraus. Leonard Wulff kniet auf dem Boden neben dem leblosen Mann, um ihn herum die interessierten Studierenden. Ohne Hektik sucht der Erste-Hilfe-Ausbilder die Mitte des Brustkorbes – dann drückt mit zwei Händen beherzt zu. 30 Mal. „Denkt an ‚Highway to Hell’.“ Leben retten im Takt von AC/DC. Dann zwei Mal beatmen. „Jetzt seid ihr dran.“ Der Hygiene wegen reißt Wulff der Puppe mit einem Zack das hautfarbene Silikongesicht vom Plastikschädel. Der Erste-Hilfe-Dummy wird der einzige „Verletzte“ an diesem Tag bleiben.
Vier Stunden üben die Teilnehmer den Ernstfall. Die Katastrophe, den Kriegszustand in der Stadt des Westfälischen Friedens. Sie verkosten eine fade Bohnen-Mais-Pampe, die tägliche Standardnahrung in afrikanischen Flüchtlingslagern. Sie liegen in Lazarettbetten Probe und in der stabilen Seitenlage im Erste-Hilfe-Zelt. Bis Heidis letztes Kommando über den Campus schallt. „Abbauen!“
Kompetenzzentrum Humanitäre Hilfe