News

Des Kaisers mentale Gesundheit half beim Verdrängen: WWU-Forscher erhält für Studie über Wilhelm II. Medizingeschichte-Preis

Dr. David Freis vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin hat den erstmalig vergebenen Förderpreis des Fachverbandes für Medizingeschichte erhalten (Foto: FZ / E. Wibberg)

Münster (mfm/lt) – Süchtig nach Anerkennung, undiplomatisch, maßlos, beizeiten manisch – solche Adjektive werden verwendet, um Wilhelm II. zu beschreiben, den letzten Kaiser des Deutschen Reiches. Die Literatur hat in den letzten 100 Jahren ein sehr eindeutiges und wenig schmeichelhaftes Bild dieses Mannes gezeichnet, der Deutschland in den 1. Weltkrieg führte. Wilhelm II. war unbestritten exzentrisch – aber auch noch mehr als das? Die Frage nach dem Geisteszustand des Kaisers ist ein vieldiskutiertes Thema. Dr. David Freis vom Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Universität Münster beschreibt in seinem Artikel, wie und warum Wilhelm II. als psychisch krank „diagnostiziert“ wurde – und warum von solchen „Ferndiagnosen“ abzuraten ist. Für seinen Fachartikel erhielt der Autor jetzt den Nachwuchspreis des Fachverbandes Medizingeschichte. Die 2019 erstmals vergebene Auszeichnung ist mit 500 Euro dotiert.

 „Man muss sich vor Augen halten“, sagt Freis, „dass die Diskussion um die Gesundheit des Kaisers 1918 keineswegs neu war – sie war nun nur erlaubt“. Schriften, die noch unter der Regentschaft des Kaisers dessen psychische Verfassung anzweifelten, unterlagen der Zensur oder wurden als Majestätsbeleidigung geahndet. Mit dem frühen Tod von Wilhelms liberalem Vater Friedrich III. waren 1888  zugleich die Hoffnungen derjenigen in Deutschland gestorben, die sich Wandel und Reformen der Staatsform gewünscht hatten. Der neue Regent schien – wie das gesamte Deutsche Reich – überfordert und nervös, zerrissen zwischen dem Festhalten an Traditionen und der Begeisterung für moderne Technik. Sprunghaft, unbedacht und getrieben vom Wunsch, nach außen hin Stärke zu zeigen, setzte er außenpolitisch auf einen Kurs der Stärke und Machtdemonstration und isolierte Deutschland bald von fast allen Verbündeten in Europa, was dann eine wesentliche Rolle beim Ausbruch des Weltkrieges spielte.

Als dann 1918 die Abdankung des Kaisers und die Gründung einer deutschen Republik verkündet wurden, floh Wilhelm II. in die Niederlande – und ließ Raum für wilde Spekulationen um seine Person. Ganze Bücher drehen sich um die Frage, ob der Kaiser denn nun wirklich psychisch krank gewesen sei. „Das Besondere an dieser Diskussion war, dass sie von beiden Seiten des politischen Spektrums ausging. Sowohl von links als auch rechts attestierten Ärzte dem Kaiser eine psychische Krankheit, wenn auch mit unterschiedlichen Intentionen“ erläutertet Dr. Freis. Rechtskonservative Ärzte schoben eine Krankheit Wilhelms II. vor, um für ein Fortbestehen der Monarchie zu plädieren. Denn wieso sollte man ein funktionierendes politisches System aufgrund eines einzigen „Kranken“ abschaffen? Sozialisten und Reformer hingegen argumentierten, dass ein einzelner – und dazu noch kranker – Mensch durch eine Monarchie dazu befähigt sei, Massen ins Unglück zu ziehen, weshalb es dringend einer modernen Staatsform bedürfe.

Freis beschreibt die Diskussion als einen Weg, sich sowohl mit der Neuordnung der politischen Verhältnisse, als auch mit der Verantwortung für den bislang fürchterlichsten Krieg der Geschichte auseinanderzusetzen. Denn eines hatten alle den Kaiser als krank diagnostizierenden Positionen gemeinsam: Sie sollten die Deutschen von ihrer Kriegsschuld befreien. „Ein Volk, das von einem Wahnsinnigen geleitet wird, kann nichts dafür, wenn dieser es in einen Krieg führt. Und Wilhelm selbst wurde durch die Diagnose ja genauso von seiner Schuld erlöst, wäre er als Kranker doch unzurechnungsfähig gewesen“, so Freis. Die Diagnose war somit gleichermaßen eine Stigmatisierung wie eine Inschutznahme des Kaisers gegenüber weltlichen Gerichten.

Doch wie sinnvoll ist es überhaupt, aus der Distanz einen Staatsoberhaupt zu diagnostizieren? Denn keiner der Ärzte, die nach 1918 über Wilhelm II. schrieben, hatte den Kaiser je persönlich untersucht. Ihre Einschätzung stützen die meisten auf Anekdoten, die bereits während der Regentschaft Wilhelms kursierten. „Über die psychische Gesundheit eines toten Monarchen zu diskutieren und daraus politische Schlüsse zu ziehen, ist genauso unsinnig wie die heutige Diskussion um die Psyche von Donald Trump“, meint Freis. Wer die verbalen Entgleisungen des US-Präsidenten auf eine Krankheit schiebe, verkenne dabei langfristige politische Entwicklungen in den USA, die eine Präsidentschaft Trumps erst möglich gemacht hätten. „Und wer Wilhelm II. einfach als psychisch krank abstempelt, ignoriert die politischen Vorgänge im Europa des frühen 20. Jahrhunderts, die zur Eskalation und schließlich zum Ersten Weltkrieg geführt haben.“ Freis hat dazu eine klare Meinung: „Ärzte und Historiker sollten die Finger lassen von solchen Ferndiagnosen. Psychiatrische Diagnosen sollten medizinischer Natur sein, eine Angelegenheit zwischen Arzt und Patient – und nicht ein politisches Urteil“.

Link zur prämiierten Publikation “Diagnosing the Kaiser: Psychiatry, Wilhelm II and the Question of German War Guilt“ (Abstract)