Rätselraten um das Versteck des tödlichen Ehec-Keims: Professor Helge Karch im dpa-Interview

Univ.-Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. Helge Karch (Foto: Karch)

Fünf Jahre nach der großen Ehec-Epidemie wissen Forscher viel mehr über das gefährliche Bakterium als damals. Aber längst nicht alles.
Interview: Petra Kaminsky, dpa
Münster (dpa) - Vor fünf Jahren stand Professor Helge Karch plötzlich mitten in einem Sturm: Eine mysteriöse Darmkeim-Epidemie griff im Frühjahr 2011 um sich. Tausende erkrankten, viele starben. Karch gilt als einer der besten Kenner von Ehec-Erregern. Eine aggressive Variante des Bakteriums war damals die Ursache - und das Team des Wissenschaftlers aus Münster sollte helfen, die unheimliche Welle zu stoppen. Heute wissen die Forscher viel mehr über Ehec O104:H4 - so der Fachname des Keims. Einige große Rätsel sind aber ungelöst, wie Karch der Deutschen Presse-Agentur sagte.
Wie erinnern Sie den Anfang der Ehec-Epidemie?
Karch: Wir haben die ersten Proben im Mai 2011 bekommen. Auffällig war, dass in mehreren Städten Patienten schwer erkrankt waren an einem hämolytisch-urämischen Syndrom, so heißt die sehr schwere Ehec-Form. Das ist ungewöhnlich, weil das hämolytisch-urämische Syndrom - kurz HUS - eine sehr seltene Krankheit ist mit 50 bis 100 Fällen pro Jahr in Deutschland.
War noch etwas 2011 seltsam?
Karch: Wir haben auch relativ schnell gesehen, dass es sich um einen ungewöhnlichen Ehec-Stamm handelte. Und haben durch molekularbiologische Techniken zeigen können, dass er einem Fund sehr ähnlich ist, den wir 2001 bei zwei Geschwisterkindern mit diesem Krankheitsbild isoliert hatten. Also: Es war für uns kein neuer Keim, sondern einer, der sich in unserer Stammsammlung befand und dessen genetisches Profil wir kannten.
War er komplett identisch?
Karch: Er hatte sich verändert, das ist normal bei Bakterien. Sie durchlaufen eine sehr schnelle Evolution. Ehec-Bakterien können sich an veränderte Umweltbedingungen sehr gut anpassen. Und innerhalb weniger Tage können neue Varianten entstehen. Von daher ist es nicht erstaunlich, dass dieser Stamm neue Eigenschaften besitzt. So hat er unter anderem Elemente, die ihm eine einzigartige Fähigkeit verleihen, sich sehr fest an Oberflächen anzuheften - auch an menschliche Zellen.
War das der Grund, warum dieser Ehec-Erreger so viele Menschen so schwer krank machte?
Karch: Unsere Forschungsarbeiten der letzten fünf Jahre haben gezeigt, dass es drei Gründe gibt: Ein Grund ist, dass er ein Arsenal verschiedener Giftstoffe produziert. Der Gift-Cocktail ist in dieser Kombination einzigartig. Und die Kombination ist möglicherweise auch für die Schwere der Erkrankungen verantwortlich. Der zweite Punkt ist das feste Anheften an Oberflächen - auch an die Darmwand. Den dritten Grund haben wir erst im letzten Jahr entdeckt: Der Erreger sondert seine Giftstoffe in kleinen Bläschen ab. Wir sprechen von Vesikeln. Diese Vesikel, die im Mikroskop ausschauen wie kleine Luftballons, werden von menschlichen Zellen besonders leicht aufgenommen.
Welche Forschungsfragen sind noch offen?
Karch: Es gibt eine Reihe von offenen Fragen: Nach wie vor kennen wir nicht das Reservoir, also den Ort, wo der Erreger sich aufhält bis zu einem Ausbruch. Meines Wissens wurde er seither in Tieren und Lebensmitteln nicht nachgewiesen. Wir wissen sehr wenig über sein Verhalten in der Umwelt. Auch nicht, wo der Ausbruchsstamm von Ehec O104:H4 womöglich überlebt.
Es soll der Mensch sein?
Karch: Ja, das ist unsere Hypothese, dass es Menschen gibt, die ohne erkrankt zu sein, mit diesem Keim besiedelt sind. Und dass sie diesen Keim auch ausscheiden.
Also auch Sie und ich könnten theoretisch den Keim in uns tragen?
Karch: Das wäre theoretisch möglich. Denn wenn man keine Symptome und keinen Durchfall hat, lässt man ja keine mikrobiologischen Tests durchführen. Und auch viele Patienten mit Durchfall gehen nicht zum Arzt. Und selbst wenn man Durchfall hat und beim Arzt ist, führt das nicht immer dazu, dass der Arzt eine Stuhlprobe auf Ehec untersuchen lässt.
Dieser Keim könnte wieder einen Ausbruch hervorrufen?
Karch: Es gibt keine Garantie, dass Ehec O104:H4 oder andere hochpathogene Erreger-Stämme keinen Ausbruch bei uns mehr verursachen. O104:H4 ist nur einer von 42 Ehec-Stämmen, die sehr schwere Krankheitsbilder - HUS genannt - erzeugen können. Und von denen wir - bis auf die fünf häufigsten - nicht wissen, wo sie eigentlich leben und wie sie verbreitet werden. Also: Der Stamm O104:H4 kommt noch vor, aber er hat keine Ausbrüche mehr verursacht und ist selten, eine Rarität. Trotzdem: Wir haben ihn zuletzt im September 2015 aus einer Stuhlprobe von einem HUS-Patienten in Nordrhein-Westfalen isoliert - mit einigen Mutationen. Das heißt, er hat fast viereinhalb Jahre in Deutschland überlebt. Ohne dass wir wissen, wo.
Sind wir besser vorbereitet, falls es eine neue Welle geben sollte?
Karch: Ich denke, die Ehec-Epidemie hat dazu geführt, dass unsere Lebensmittel sicherer geworden sind. Wir haben erkannt, dass nicht nur rohe, tierische Lebensmittel, sondern auch pflanzliche Lebensmittel Ehec-Ausbrüche hervorrufen können. Und es hat Maßnahmen gegeben, um auch pflanzliche Lebensmittel sicherer zu machen. Da hat sich viel verändert. Trotzdem gibt es viele Wege, auf denen Ehec verbreitet wird. Die rund 1600 Ehec-Erkrankungen, die jährlich gemeldet werden, sind nur die Spitze des Eisbergs. Deshalb sollte jeder von uns durch Hygiene zu Hause seinen Teil beitragen im Kampf gegen Ehec: Dazu gehört rohe tierische und pflanzliche Lebensmittel zu trennen - auch im Kühlschrank. Und Händewaschen.
ZUR PERSON:
Helge Karch, Jahrgang 1953, ist ein international renommierter Mikrobiologie und gilt in Deutschland als «Ehec-Papst».
Er kam 2001 an die Westfälische Wilhelms-Universität und wurde Direktor des Instituts für Hygiene am Universitätsklinikum Münster. Zu den Hauptforschungsgebieten Karchs gehören die Analyse von gefährlichen Keimen und Ansteckungsketten etwa bei Lebensmittelinfektionen. Ihm gelang die erste zentrale Beschreibung von Ehec O104:H4.

Abruck mit freundlicher Genehmigung der dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH, Hamburg, www.dpa.de

Copyright: dpa
© dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH.  Alle Inhalte sind urheberrechtlich geschützt. Jegliche Nutzung von Inhalten, Texten, Grafiken und Bildern ist ohne ausdrückliche schriftliche Zustimmung der dpa unzulässig. Dies gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung und öffentliche Wiedergabe sowie Speicherung, Bearbeitung oder Veränderung.

Folgendes könnte Sie auch interessieren: