Alles andere als nur „Theorie-Gegrübel“: Für Norbert W. Paul gehört zur Medizin zwingend auch die Ethik

Hat beste Erinnerungen an seine Zeit in Münster: Prof. Norbert W. Paul, Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Universität Mainz (Foto: WWUM/P. Pulkowski)

Münster (mfm/sw) – Keine TV-Talkshow ohne sie - wenn durch die Corona-Pandemie eine Berufsgruppe bekannt geworden ist, dann sicher die der Virologen. Doch nicht nur sie waren Dauergast im abendlichen Plauder-Programm: Auch (Medizin-)Ethiker hatten einen Stammplatz sicher: Zu denen gehört Prof. Norbert W. Paul – der Direktor des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, ein Alumnus der Universität Münster, befasst sich leidenschaftlich gerne mit zwei Fragen, die sich in der Medizin immer aufdrängen: Was ist ethisch verantwortliches Handeln – und vor allem: Was nicht?

Wer Ethik nur mit „am Schreibtisch verkriechen“ und praxisfernen Theorien verbindet, liegt falsch, so Paul: „Das sollte spätestens durch die Corona-Pandemie deutlich geworden sein.“ Was seine Disziplin umtreibe, sei relevant für viele politische Entscheidungen – vor allem in der Impfdebatte. Wer erhält zuerst die vielleicht lebensrettende Spritze? Sollte es eine auf Berufsgruppen bezogene Impfpflicht geben? Fragen wie diese beschäftigen auch den 58-Jährigen – der als Vorsitzender des Ethikbeirates des Ministeriums für Wissenschaft und Gesundheit in Rheinland-Pfalz die dortige Landesregierung berät.

Auch auf historischer Ebene sei die Corona-Pandemie alles andere als uninteressant: Corona bleibt, da ist sich Paul sicher, als „eine bemerkenswerte historische Epoche“ im Gedächtnis – allerdings mit weitaus weniger spürbaren Einschnitten als zum Beispiel die Pest. Was beiden Krisen aber gemein sei, so Paul, sei das Verhalten der Bürgerschaft. Diese reagiere auf unbekannte Epidemien typischerweise mit totaler Abschottung, so zeige es die Medizingeschichte – und sie suche nach Sündenböcken. „Klar sind die letzten Jahre nicht spurlos vorbeigegangen an der Gesellschaft. Das hat aber nicht nur Schattenseiten, denn die Wertschätzung für unsere Arbeit bleibt“. Über die, insbesondere in der eigenen Universitätsmedizin, hat Paul sich sehr gefreut. Kritisch blickt er jedoch auf die aktuelle Politik: „Leider habe ich den Eindruck, dass die guten Vorsätze, zum Beispiel im Hinblick auf Pflegenotstand und Fachkräftemangel, bei Konfrontation mit den Realitäten genau das bleiben werden – Vorsätze“.

Fernab vom Corona-Virus befasst sich die Medizinethik mit einer Vielzahl von Gesundheitsthemen, die „ethisch Substanz“ haben, so Paul. Darunter fallen Fragen rund um Transplantationen oder Notfallmedizin. Wie kann die Organspende künftig geregelt werden – und ist ein Modell wie in Österreich, also die Widerspruchslösung, bei der grundsätzlich von einer Bereitschaft zur Organspende ausgegangen wird, ethisch vertretbar und denkbar? Es zeigt sich: Medizin ist eben mehr als Klinikalltag und Hausarztpraxis.

Wenn Paul nicht gerade im weiterbildenden Masterstudiengang Medizinethik in Mainz lehrt, der sich einer hohen Nachfrage erfreut (und das auch bei Postgraduierten der Rechtswissenschaften oder Psychologie), widmet er sich seinen Forschungsprojekten. Aktuell befasst sich der Institutsdirektor unter anderem mit den ethischen und erkenntnistheoretischen Herausforderungen von individualisierter Immuntherapie. Dieser noch neue Ansatz greift auf molekulargenetische Untersuchungen zurück, um so individuelle Tumormerkmale – sogenannte Biomarker – zu identifizieren, die dem Tumor zu Wachstum verhelfen. Derart kann der Krebs gezielt angegriffen werden, was gegenüber der herkömmlichen Behandlung eine individuellere – und erfolgversprechendere – Alternative darstellt. Es liegt in der Natur der Sache, dass Studien hierzu, anders als in der Forschung üblich, nicht randomisiert über große Kohorten erfolgen. Stattdessen wird auf alternative - adaptive - Studiendesigns zurückgegriffen, die die Wissenschaft vor ethische Herausforderung stellen könnten und andere Formen von Evidenz hervorbringen. Pauls Aufgabe besteht darin, diesem Zielkonflikt auf den Grund zu gehen – und Lösungen für etwaige Probleme zu finden.

Die Faszination für Pauls Disziplinen wurzelt in Münster – genauer gesagt am dortigen Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin (EGTM) der Universität. „Während meiner Studienzeit in den Geisteswissenschaften in Düsseldorf und Münster – Geschichte, Philosophie und Deutsche Philologie - habe ich mich nach mehr Anwendungsbezug gesehnt“, erzählt der 58-Jährige. „So sehr ich auch Literatur liebe, wusste ich: Da muss noch etwas Anderes her. Da kam der Job als Studentische Hilfskraft am EGTM wie gerufen“. Was als „HiWi-Job“ begann, mündete in eine Promotion in der Medizintheorie bei Doktorvater Prof. Peter Hucklenbroich – und schließlich in die heutige Professur. Nachdem es Paul zunächst wieder ins Rheinland an die Universität Düsseldorf zog, wechselte er nach mehreren Forschungsaufenthalten im Ausland 2004 nach Mainz - wo er seitdem als Professor und Institutsdirektor tätig ist.

An Münster und seine Studienzeit denkt der gebürtige Solinger, der in Warendorf aufgewachsen ist, gern zurück: „Schon aus familiären Gründen bin ich oft in der westfälischen Metropole – und habe damit offensichtlich auch meine Tochter angesteckt“, erzählt er – denn diese möchte nun ihr Praktisches Jahr in Münster absolvieren. „Immer, wenn ich zu Besuch bin, freue ich mich, dass ich Dinge aus meinen Studienzeiten wiederentdecke - das eine oder andere Café beispielsweise gibt es immer noch“. Eine Sache, so der Ethiker, vermisse er in seiner Wahlheimat jedoch nicht: den münsterschen Nieselregen. Bezüglich des Wetters gebe er dem sonnigen Klima in Mainz den Vorzug – und genießt dieses am liebsten bei Wanderungen durch Rheinhessen.

Mit diesem Bericht setzt der Alumni-Verein „medAlum“ der Medizinischen Fakultät Münster seine Reihe von Porträts ungewöhnlicher „Ehemaliger“ fort. Basis der Serie ist das Absolventenregister von medAlum.

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