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Musterprojekt wird ausgemustert: Mediziner der Uni Münster enttäuscht über das neue Verfahren der Studienplatzvergabe

33.000 Spielszenen hinter verspiegelten Scheiben für die Auswahl der richtigen Kandidaten: Juroren in der Lerneinrichtung LIMETTE während des MMS-Verfahrens (Foto: WWU / IfAS)

Münster (mfm/tb) - Als Innovation 2012 eingeführt, bundesweit beachtet, über sieben Jahre hinweg laufend verfeinert, von der Fachwelt anerkannt, vom Land für die neue „Landarzt“-Quote konzeptionell übernommen – und jetzt ausgemustert: Die Medizinische Fakultät der Universität Münster (WWU) muss ihren „Münsteraner Studierfähigkeitstest“, mit dem sie Studienplatz-Bewerberinnen und -Bewerber über die Abiturnote hinaus nach sozialen und kommunikativen Qualitäten ausgesucht hat, auf unbestimmte Zeit - und vielleicht für immer - aussetzen. Heute [22.08.] startet der letzte Durchgang. Grund sind die Auswirkungen einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (BVG).

Als die Karlsruher Richter Ende 2017 das bis dato gültige Verfahren für die Vergabe von Studienplätzen in der Medizin in Teilen als nicht verfassungsgemäß einstuften, waren die Erwartungen hoch. Zahlreiche Medienberichte zeugen von der aufkeimenden Hoffnung, künftig auch ohne ein Abitur im Bereich des bisherigen - sehr hohen - Numerus clausus (NC) Medizin studieren zu können. Bis zum Ende dieses Jahres hat die Politik Zeit für die Umsetzung der BVG-Vorgaben – aber die Erwartungen in Richtung eines breiteren Bewerberspektrums sind an der Uni Münster der Enttäuschung gewichen. „Wer beispielsweise von einer Verkleinerung der Abiturbestenquote ausging, muss sich nun über deren Erhöhung von 20 auf 30 Prozent wundern“, sagt der Studiendekan der Medizinischen Fakultät der WWU, Prof. Bernhard Marschall. Die Abiturbestenquote ist – der Name sagt es – den Abiturienten eines Jahrgangs mit den besten Noten vorbehalten.

Noch eklatanter wirkt sich das BVG-Urteil nach Einschätzung der Mediziner an der WWU auf die sogenannte Wartezeitquote aus: „Es war in meinen Augen ein Ausdruck unseres sozialen Rechtsstaates, dass in Deutschland bislang jeder Abiturient Medizin studieren konnte, insofern er nur genügend Ausdauer und Engagement hatte“. Eine solche Garantie wird es zukünftig nicht mehr geben: Das Verfassungsgericht stuft die aktuell erforderlichen Wartezeiten von mehr als sieben Jahren als nicht verhältnismäßig ein – mit dem Ergebnis, dass es künftig eine Grenze geben wird, unterhalb derer Interessenten keinen Zugang mehr zu einem Studienplatz haben.

Wo für Bewerberinnen und Bewerber dieses Limit liegen wird, wird maßgeblich vom individuellen Abschneiden beim „Test für Medizinische Studiengänge“ (TMS) abhängen. Zwar schreibt der Gesetzgeber den Hochschulen ab 2020 nur die Berücksichtigung „eines“ Studierfähigkeitstestes vor, doch ist unter den wenigen verfügbaren Modellen faktisch nur der TMS eine realistische Variante. Damit sind die Hochschulen gezwungen, einen elementaren Anteil ihres Vergabeverfahrens an einen für Bewerber wie Hochschulen kostenpflichtigen Test eines kommerziellen Anbieters abzutreten – auf den sich finanzkräftigere Kandidatinnen und Kandidaten dann wohl mit ebenfalls kostenpflichtigen Schulungen vorbereiten werden.

Sollte das Ergebnis dieses nur eintägigen und rein schriftlichen Tests nicht ausreichen, um in Kombination mit der Schulnote in Reichweite der Studienplätze zu kommen, wird es künftig nur noch eine Möglichkeit geben, seine Chancen zu verbessern: eine Lehre in einem Gesundheitsberuf. Während es in der Forschungsliteratur keinerlei Hinweise darauf gibt, dass eine solche Ausbildung positive Effekte auf den Studienerfolg von Studierenden der Medizin haben kann, sieht Marschall ein ganz anderes Problem: „Wir alle haben gut ausgebildete, engagierte und erfahrene Fachkräfte vor Augen, die wir uns auch sehr gut in einem Studium der Medizin vorstellen können. Aber wenn die Berufsausbildung zum Auswahlkriterium wird, wird dies andere Effekte nach sich ziehen: Jährlich 8.000 bis 10.000 junge Menschen mit einem guten Abiturdurchschnitt könnten in Ausbildungsgänge strömen allein mit dem Ziel, hierdurch einen Medizinstudienplatz zu ergattern. Wenn das dann nicht gelingt, werden sie sich einem anderen Berufsziel zuwenden. So dürften Tausende von in der Pflege dringend benötigten Ausbildungsplätze blockiert werden“.

Demgegenüber hat die Medizinische Fakultät schon 2012 ihren „Münsteraner Studierfähigkeitstest“ eingeführt, der neben dem Schulabschluss  gerade die non-kognitiven Fähigkeiten zur Grundlage der Studienplatzvergabe machte. Zu einem Motivationsschreiben und einem medizinischen-naturwissenschaftlichen Verständnistest kam als Kern des Verfahrens eine Art Assessment Center hinzu: In einem ausgeklügelten Parcours mit praxisorientierten Spielszenen mussten die Kandidatinnen und Kandidaten ihre kommunikativen und sozialen Kompetenzen unter Beweis stellen. Zwar blieb - wie allerorts - ein gutes Abitur eine Voraussetzung für einen Medizin- oder Zahnmedizin-Studienplatz, aber die Änderung hatte den gewünschten Effekt: „Der Run auf Münster ist unverändert groß, aber die Bewerberstruktur nun eine andere“, blickt Prof. Marschall zurück – und nennt den Grund: „Wer sich hier bewirbt, weiß, welches Fach- und Persönlichkeitsprofil wir erwarten – und geht davon aus, dass er es mitbringt“.

Im Zuge der Gesetzesänderung ist nun mit dem münsterschen Konzept erst einmal Schluss. Nicht etwa, weil die Verfassungsrichter diesen Weg bemängelt hätten - im Gegenteil: Sie ebneten einem solchen Vorgehen den Weg. Der Grund für das Aussetzen ist ein banaler: Bei der Stiftung für Hochschulzulassung, die alle Bewerbungsdaten für vier extrem stark nachgefragte Fächer, darunter Medizin und Zahnmedizin, verarbeitet und anschließend an die einzelnen Fakultäten weiterleitet, ist nun eine neue Software im Einsatz – und die ist derzeit nicht in der Lage, das komplexe Verfahren abzubilden.

Marschall hofft, dass die Zwangspause keine dauerhafte ist. Aber selbst dann wäre die Arbeit am MMS nicht umsonst gewesen, betont er: „Zum einen konnten wir die Zusammensetzung von immerhin 15 Semesterkohorten der Human- und Zahnmedizin damit prägen. Aber vor allem haben wir wertvolle Erfahrungen gesammelt, die wir an andere Standorte weitergeben können“. Das läuft bereits: Die Münsteraner bringen ihre Praxiskenntnisse in den „Studierendenauswahl-Verbund“ (STAV) ein, ein vom Bundesforschungsministerium gefördertes Projekt, das die Qualität der bestehenden Auswahlverfahren untersuchen und neue Tests zur Messung kognitiver, sozialer und kommunikativer Fähigkeiten entwickeln soll. Beteiligt an STAV sind neben Münster fünf weitere deutsche Unikliniken und Universitäten.

Hintergrund: der MMS in Zahlen

Der Aufwand, den die Medizinische Fakultät bislang in ihre bundesweit beachtete Innovation gesteckt hat, ist immens: Wenn der 15. und vorerst letzte MMS läuft, werden über 4.000 Bewerber eine Einladung zu diesem Test erhalten haben, rund 16.000 Bewertungen für die Bewerbungsschreiben erfolgt und etwa 200.000 Fragen im naturwissenschaftlichen Verständnistest beantwortet worden sein. „Die größte Herausforderung lag aber - auch logistisch - in der Gestaltung, Durchführung und Beurteilung der etwa 33.000 fünfminütigen Spielszenen, anhand derer die wir die non-kognitiven Skills eingeschätzt haben“, bilanziert Prof. Bernhard Marschall nicht ohne Stolz. Wie durchdacht der MMS war, belegt eine andere Zahl: „Die Menge der daraus entstandenen Klagen auf Verfahrensfehler bei der Studienplatzvergaben beläuft sich auf genau null“, so der Studiendekan.

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