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„Angst haben nur die, die nichts zu tun haben“: Tropenärztin Bärbel Krumme hat schon (fast) überall geholfen

Bärbel Krumme bei einem Einsatz in Afrika (Foto: privat)

Im Ernährungszentrum für afghanische Geflüchtete in Pakistan (Foto: privat)

Bärbel Krumme im Jahr 2022

Münster (mfm/jg) – „Ich halte mich gar nicht für so interessant“, lacht Dr. Bärbel Krumme und fasst damit ihr Leben zusammen. Das hat die 80-Jährige nämlich weniger sich selbst gewidmet, sondern vor allem den anderen, denjenigen, die sich allein nicht helfen können. Pflegte sie während des Medizinstudiums in Münster noch ihren schwer kranken Vater, verschlug es sie später als Tropenärztin in die Krisengebiete dieser Welt, nach Sudan etwa, nach Somalia, in den Libanon. Noch heute unterstützt die gelernte Internistin in ihrer Heimat Würzburg Flüchtlinge bei der Integration, besuchte im vergangenen Winter aber noch einmal ein Kriegsgebiet – Novoselytsia in der Ukraine.

„Das gute Beispiel ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen, es ist die einzige“, besagt ein Zitat Albert Schweitzers. Als Bärbel Krumme dem „Urwalddoktor“ im Alter von 13 Jahren in der Dortmunder Reinoldi-Kirche die Hand schüttelte, hatte sie bereits sämtliche Bücher ihres Idols gelesen – und einen Traum: „Einmal selbst nach Lambaréné im Gabun. Um dort zu helfen.“ Genährt wurde dieser Wunsch auch durch ihren Onkel, wenn der Schiffsarzt von seiner abenteuerlichen Arbeit „auf hoher See“ erzählte. „Das hat großen Eindruck gemacht“, erinnert sich Krumme heute. „Sowas prägt.“

Und das ein Leben lang. Geboren in Dortmund, erlernte sie die fachlichen Grundlagen ihres späteren Wirkens an der Universität Münster. Eine fleißige Studentin sei sie nicht gewesen, zu sehr beschäftigte sie die Krankheit des eigenen Vaters, zu oft verbrachte sie die Wochenenden mit der Pflege zu Hause, nahm sich sogar ein Freisemester. „Die Stadt hat mir aber gut gefallen. Mit einigen Kollegen von damals habe ich immer noch Kontakt“, so Krumme. Besonders in Erinnerung sei ihr – Überraschung – der Aasee geblieben: Hier begann sie mit dem Segeln, sattelte später aber auf Rudern um.

Ihr erster Einsatz führte sie direkt aufs Wasser: Die Organisation „Cap Anamur“ hatte sich Ende der 1970-er eigens gegründet, um „Boatpeople“ zu retten – Menschen, die vor dem Vietnamkrieg in Südostasien über das Meer flüchteten. Ein Kollege in der Poliklinik Würzburg erzählte Krumme, damals im Röntgen tätig, von seinen Erlebnissen – „und 14 Tage später war ich auf dem Schiff“. Beinahe wäre sie der Organisation auch zum nächsten Einsatz gefolgt, hatte ihrem ärztlichen Leiter aber versprochen, heimzukehren – ein Balanceakt, der ihr Leben als Tropenärztin begleitete: „Ich bin Cap Anamur lange treu geblieben. Aber man erhält kein Gehalt, deswegen musste ich mit der Arbeit zu Hause Kompromisse eingehen.“

Zunächst bildete sie sich aber in der Tropenmedizin weiter – zu unsicher fühlte sie sich noch in dieser ihr fremden Welt, jenseits von Krankenversicherungen, vollausgestatteten Arztpraxen, präparierten OP-Sälen. Wie sich „herkömmliche“ und „tropische“ Methoden unterscheiden? „Man arbeitet mehr sozialmedizinisch: Es gilt, das Leben der Menschen zu verstehen, um ihre Krankheiten zu verstehen und das, was ihnen am meisten nützt“, erklärt Krumme. Das bedeutet, die Wasserversorgung zu beachten, den Zugang zu sanitären Anlagen, die Ernährung. Und: „Man muss unglaublich viel improvisieren. Es gibt ja keine Möglichkeit, den Patienten an einen Facharzt zu überweisen. Was ich beispielsweise nie in Deutschland gesehen habe, ist eine Uterusruptur. Bei einer jungen Frau hatte die ganze Familie auf dem Bauch gekniet und versucht, das Kind herauszupressen. Ich habe Binden genommen, in Betaisodona getunkt, den ganzen Uterus ausstaffiert und dann tüchtig Antibiotika gegeben.“

Die Frau überlebte – nach wochenlangem Kampf. Sie ist nur ein Beispiel für die vielen ergreifenden Episoden aus Krummes Leben, für Fälle, die kaum vorstellbar sind, die man „natürlich nicht sehen will, aber im Krieg passiert sowas“. Ihre Einsätze führten sie unter anderem in die Krisengebiete von Uganda, Somalia, Sudan und dem Libanon; rund ein Drittel ihrer Arbeitszeit verbrachte sie in den Tropen. Dabei geriet Krumme auch selbst in Gefahr: „1986 rückten die Soldaten Idi Amins in Uganda an. Wir mussten das Krankenhaus sofort verlassen und zusammen mit 150.000 Leuten in den Kongo fliehen. Mit dem Moped sind wir immer wieder in das Gebiet gefahren und haben Medizin sowie Geräte aus Krankenhaus geholt“.

Was macht das mit Menschen? Die Angst vergesse man, wenn einem „die Geschosse um die Ohren pfeifen“, so Krumme. „Man hat ja immer was zu tun, weil man verantwortlich ist für Menschen, denen es schlechter geht als einem selbst. Angst haben nur die, die nichts zu tun haben.“ Bei all dem Leid gebe es natürlich auch schöne Momente – man mache das alles schließlich „nicht nur aus Opferwillen, sondern auch, weil es viel Freude bringt. Man lernt so viel, lernt andere Kulturen kennen, andere Menschen, denen man später wiederbegegnet. Und man wird sehr bescheiden“, sagt Krumme. Ihre schönste Erinnerung: der Anblick leerer Infektionszimmer auf den Kinderstationen Ugandas. „Es war Krieg, deswegen gab es keine Impfkampagne gegen Masern. Wir hatten zehn tote Kinder am Tag, obwohl wir immer sofort geimpft haben – dass dann die Zimmer leer waren, war das beglückendste, was ich erlebt habe.“

Viele dieser Erlebnisse verarbeite man erst im Nachhinein; eine gründliche Vor- und Nachbereitung sei daher unumgänglich. Krumme selbst hat ihre Erfahrung und vor allem ihr sozialmedizinisches Wissen auf verschiedenen Wegen weitergegeben: Einer davon ist die Schulung von Tropenmedizinern, etwa als Referentin am Missionsärztlichen Institut in Würzburg. Vier Jahre war sie sogar als Dozentin in Simbabwe an der panafrikanischen „Afrika University“ tätig, baute hier sowohl den Bachelorstudiengang „Health Management“ als auch den „Master of Public Health“ mit auf. „Dabei habe ich mit den Studierenden auch sehr praktisch gearbeitet“, erzählt sie, „an der Grenze zu Mosambik analysierten wir eine Choleraepidemie. Generell halte ich die Zeit gegen Ende meiner Laufbahn, als ich nicht mehr selbst kurativ aktiv war, sondern Wissen vermittelt und Konzepte entwickelt habe, langfristig für bedeutender“. Dazu zählt auch die Evaluation vieler Projekte der Not- und Katastrophenhilfe. Ein Gesundheitsprogramm in Würzburg beriet sie beispielsweise bei der Entwicklung von HIV-Tests, um die Bluttransfusion bei Operationen in Krisengebieten sicherer zu machen.

Und heute? Da sind die Tropenaufenthalte rein körperlich nicht mehr möglich, in ihrem – sogenannten – Ruhestand unterstützt sie in Würzburg hauptsächlich Flüchtlinge, lebt unter einem Dach mit einer afghanischen Familie, ist Teil des Ökumenischen Asylkreises der Gemeinde, gibt Nachhilfeunterricht in Englisch und Deutsch. „Die Erfahrungen senken die Hemmschwelle vor Ort. Man kann immer besser helfen, wenn man die Bedingungen und Lebensweise der Heimat kennt“, erläutert Krumme. Um ihrer Arbeit für den Asylkreis gerecht zu werden, fuhr sie vergangenen Winter daher auch aus Eigeninitiative nach Novoselytsia: „Wichtig ist, dass die Wirtschaft in der Ukraine aufrechterhalten und die Infrastruktur repariert wird. Die kleinen Straßen waren alle verstopft – Lkw-Schlangen kilometerweit, sodass die wichtigen Lieferungen von Gas und Öl nicht vorankamen.“ Daher seien große Spenden an Kleidern und Naturalien nicht der richtige Weg, der Handel vor Ort müsse gefördert werden. „Ich habe einen Ingenieur kennengelernt, der hat in einer kleinen Holzhütte mit 3D-Druckern gearbeitet. Ich war so beeindruckt von diesem Menschen, der sich voller Energie darauf eingestellt hat, etwas zu tun, was gerade dringend gebraucht wird.“

Eine Beschreibung, die auch auf Krumme passt – und weiterhin passen wird: „Solange ich gesund bleibe, möchte ich noch etwas machen“, schaut sie nach vorn. Das sei auch eine Ermutigung für alle Ruheständler – es gebe viele Möglichkeiten, wie man ehrenamtlich helfen, die eigenen Lebenserfahrungen einbringen könne. Oder, in Schweitzers Worten: wie man mit gutem Beispiel vorangehen kann.    Text: Julian Gülker

Mit diesem Bericht setzt der Alumni-Verein „medAlum“ der Medizinischen Fakultät Münster seine Reihe von Porträts ungewöhnlicher „Ehemaliger“ fort. Basis der Serie ist das Absolventenregister von medAlum.