Spieglein, Spieglein an der Wand - Zeigst du mir deinen Verstand?

Die Begegnung mit einem unbekannten Menschen weckt meist unwillentlich oder willentlich das Verlangen nach Erkenntnis, wer dieses Gegenüber ist. Schon in der griechischen Antike beschäftigten sich Gelehrte wie Pythagoras und Hippokrates von Kos mit der Frage, woran ein bestimmter Charakter zu erkennen sei. Systematische Beobachtungen und Vergleiche vor allem mit dem Tierreich spielten dabei eine bedeutende Rolle. Man setzte z.B. symmetrische Gesichtszüge oder Körperteile mit Schönheit und sogar Klugheit gleich. Das war der Beginn der physiognômiê, (zusammengesetzt aus physis und gnômôn), das so viel bedeutet wie „Kenner der natürlichen Beschaffenheit des Körpers“ sowohl physisch als auch seelisch. Im pseudowissenschaftlichen Sinne wurde die Physiognomie von Giambattista Della Porta (1535-1615), einem Universalgelehrten der späten Renaissance, aufgegriffen, der die Erkundung des menschlichen Charakters anhand äußerer Erscheinungsformen vollzog. Della Porta beschrieb in „De humana physiognomia“ (1586) erstmals in einer wissenschaftlich geordneten Form Gesichtstypen, die er mit der Tierphysiognomie verglich. Der Gelehrte verfolgte die Ansicht, die ganze Welt sei ein Netz von Analogien zwischen Pflanzenwelt, Tierwelt und des Menschenkörpers. Ähnliche Formen von Mensch und Tier sollten daher gleiche Charaktereigenschaften nahe legen (z.B. Adler – Tapferkeit). Überprüfen Sie mit Hilfe der in der Ausstellung aufgehängten Spiegel, welche tierischen Charakterzüge Della Porta Ihnen zugeschrieben hätte! Das Physiognomieren entwickelte sich zum Kult im 18. und 19. Jh. Viele Gelehrte vermaßen Gesichtsproportionen und schrieben Abhandlungen zur charakterologischen Gesichtsforschung, unter anderem Charles Le Brun und J.C. Lavater. Die Gegner dieser Bewegung wie Leonardo Da Vinci, Lichtenberg, Kant und Hegel trennten sich strikt vom Deutungscharakter der Physiognomie und wiesen dieser Form von Wissenschaft lediglich eine beschreibende Funktion zu.

Geiz, Genie und Gottesliebe – die Schädellehre des Dr. Gall

Zu Beginn des 19.Jahrhunderts verbreitete der deutsche Arzt und Anatom Franz Joseph Gall die Idee, man könne von der Beschaffenheit der Schädeloberfläche eines Menschen auf dessen Charakter und geistige Qualitäten schließen. Gall und seine Anhänger waren davon überzeugt, dass sich die Charaktereigenschaften bestimmten Hirnregionen zuweisen lassen und dass die Größe der jeweiligen Hirnregion mit der Stärke der entsprechenden Eigenschaft im Zusammenhang stehe (Abb. 1). Weiterhin vermuteten sie, dass sich der Schädel der Hirnform anpasse, so dass markant ausgeprägte Hirnregionen die Schädeloberfläche entsprechend prägten. Es galt, Dellen und Beulen zu ertasten und den von Gall definierten Eigenschaften zuzuordnen. Seine Zuordnung von geistigen Qualitäten zu bestimmten Schädelabschnitten basierte auf seinen eigenen Beobachtungen. Trotz dieser unwissenschaftlichen Herangehensweise stellt die später auch als Phrenologie bezeichnete Lehre (griech. phren = Geist, Verstand; logos = Lehre) einen wichtigen Vorläufer der modernen Neurowissenschaften dar. Denn die Idee, geistige Eigenschaften in spezifische Teilleistungen zu zerlegen und diese bestimmten Hirnregionen zuzuordnen, ist bis heute stimmig. Dies ist z.B. schon für bestimmte Sprach-, Seh- und Gedächtnisfunktionen gelungen. Allerdings Eigenschaften wie z.B. Genialität oder Intelligenz im Gehirn einen bestimmten Ort zu zuweisen , ist eher zweifelhaft, denn diese sind sehr komplex und schon begrifflich nicht eindeutig zu erfassen. Außerdem hat sich Gall in der Annahme geirrt, diese Eigenschaften könne man schon an der Schädeloberfläche ertasten.
Abb. 1: Charaktereigenschafen und ihre Lokalisation nach F.J. Gall

Der Verbrecherkatalog des Dr. Lombroso

Auf der Grundlage von Schädelvermessungen und Vorarbeiten von Della Porta und Gall, formulierte im 19.Jahrhundert der Turiner Arzt Cesare Lombroso (1835-1909) die Behauptung, dass ein Verbrecher schon an körperlichen Merkmalen zu erkennen sei (Abb.2). In seinem berühmtesten Werk „L’uomo delinquente“ (Der Verbrecher, 1876)  beschrieb er einen Mörder wie folgt:  „Die Nase ist groß, oft eine Adler- oder vielmehr eine Habichtsnase; der Kiefer stark knochig, die Ohren lang, die Lippen dünn, die Eckzähne groß.“ Er ging bei seiner Arbeit empirisch vor, indem er z.B. die Gehirne von Kriminellen sezierte oder Schädelvermessungen durchführte; dabei stellte er z.B. bei der Autopsie eines gefürchteten Straßenräubers und Mörders eine Schädelanomalie fest, die Ähnlichkeit mit Schädelformen von Affen hatte. Daraus schloss er, dass Verbrecher „mit tierähnlichen Zügen ausgestattete Wilde“ und somit zum Verbrechen geboren seien. „Der geborene Verbrecher […] muss früher oder später […] zum unverbesserlichen Verbrecher werden, und zwar infolge angeborener Anomalien seiner seelischen Funktionen, die ihrerseits wieder durch die körperlichen Abnormitäten bedingt sind.“ Als kriminalpolitische Konsequenz blieben daher nur die lebenslange Haft und die Todesstrafe.
Abb.2: Ein Katalog von Verbrechergesichtern. Anschauungstafel zum Atlas von C. Lombrosos Der Verbrecher. Gruppe A sind Ladendiebe; Gruppen B, C, D und F sind Betrüger; Gruppe G machten betrügerischen Bankrott; Gruppe E sind deutsche Mörder; Gruppe H sind Handtaschenräuber; Gruppe I sind Einbrecher.

Was wurde daraus in der NS-Zeit?

Diese Lehre Lombrosos entdeckte der NS-Staat wieder (Abb. 3) und missbrauchte sie für seine Zwecke kriminalpolitisch: Der Gedanke der Anlagenbedingtheit des Verbrechens diente unter anderem zur Rechtfertigung der Verfolgung und physischen Vernichtung von Juden, psychisch Kranken und politischen Gegnern („nationalsozialistische Ausdruckspsychologie“). Physiognomischen Merkmalen (Breite des Kiefers, Höhe der Stirn usw.) einer „Rasse“ wurden bestimmte Charaktereigenschaften (Moral, Kapitalismus usw.) zugeordnet, was zu Diskriminierung und Abwertung führte. Fazit: Weder die Phrenologie noch die Physiognomie lassen  issenschaftlich fundierte Schlussfolgerungen bezüglich unserer geistigen Eigenschaften zu. Könnte die moderne Hirnforschung eine bessere Methode sein als ein Blick in den Spiegel?
Abb.3 : Schädelvermessungen in der NS-Zeit
(Autorinnen: Christina Sehlmeyer, Adrianna Ewert, Kristin Herper)