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Nicht ganz dicht: Neuroimmunologen der WWU weisen nach, dass das Gehirn doch nicht so privilegiert ist wie angenommen

Doktorand Sebastian Herich (Erstautor, l.) und Dr. Tilman Schneider-Hohendorf (Experimenteller Leiter der Studie, Erstautor) im Labor (Foto: WWU / Erk Wibberg)

Münster (mfm/sk) – Das Immunsystem ist komplex – in einem so hohen Maß, dass sich seine Grundprinzipien schwer definieren lassen. Eines aber schien bislang in Stein gemeißelt zu sein: Das Gehirn hat eine Sonderstellung im Immunsystem; T-Zellen können die Blut-Hirn-Schranke, die das Denkorgan abschirmt, nur überwinden, wenn diese entzündet ist. Umgekehrt hieß das: Zellen im Gehirn sind ein Zeichen von Krankheit. Hieß - denn diese Erkenntnis wurde jüngst über den Haufen geworfen: Auch bei Gesunden fanden Forscher Immunzellen im Gehirn. Neuroimmunologen der Universität Münster konnten nun zeigen, wie sie dahin kommen, was sie dort tun - und warum sie sogar verhindern, dass Krankheiten wie das West-Nil-Virus ausbrechen oder AIDS das Gehirn schädigt.

Der Reihe nach: Ausgangspunkt der Entdeckung war, dass Arbeitsgruppenleiter Prof. Nicholas Schwab 2015 auf eine bisher wenig beachtete Studie stieß. „Darin ging es um Patienten, bei denen eine Infektion mit dem West-Nil-Virus mit einer schweren Hirnhautentzündung einherging“, berichtet der Mitarbeiter der münsterschen Uniklinik für Allgemeine Neurologie. Der ursprünglich vor allem in Afrika verbreitete Virus wird durch Stechmücken übertragen und trat 2019, wohl aufgrund des Klimawandels, erstmals auch in Deutschland auf. In 99 von 100 Fällen verläuft die Krankheit harmlos. Das verbleibende eine Prozent der Patienten weist eine genetische Besonderheit auf: Auf den Körperzellen fehlt der Rezeptor CCR5.

Für den experimentellen Leiter der nun veröffentlichten Studie, Dr. Tilman Schneider-Hohendorf, war die Beweislage ausreichend: Anhand eines exakten Modells der Blut-Hirn-Schranke untersuchte er nicht nur, wieso, sondern auch wie CCR5-T-Zellen den Weg über die eigentlich unüberwindliche Barriere schafften. Das Ergebnis einer vierjährigen Analysearbeit: Die CCR5-Zellen schütten einen Botenstoff namens Granzym K aus. „Er bewirkt, dass die Blut-Hirn-Schranke kurzfristig genau dort durchlässig wird, wo die T-Zelle an der Gefäßinnenwand haftet“, erläutert Sebastian Herich, Doktorand aus der Arbeitsgruppe Schwabs, der das Modell entwickelte.

Einmal im Gehirn, sorgen die Eindringlinge zum Beispiel dafür, dass entstehende Tumore und Infekte frühzeitig entdeckt und im Idealfall auch bekämpft werden. Wie wichtig diese Wächterfunktion im Gehirn ist, wiesen die münsterschen Neuroimmunologen bei Patienten mit dem HI-Virus nach: Das Virus nutzt CCR5 als Eintrittsportal und befällt somit CCR5-Gedächtniszellen und löscht sie aus. Die Folge: Bei HIV-infizierten Patienten, die wegen kognitiver Auffälligkeiten behandelt wurden, wiesen die Forscher besonders wenig CCR5-Wächter im Blut nach. Folgerichtig findet sich die „Security“  hingegen vermehrt im Hirngewebe gesunder Menschen.

Prof. Heinz Wiendl, Leiter der Studie, fasst das wichtigste Ergebnis der aktuellen Forschung so zusammen: „Das Gehirn ist nicht so privilegiert, wie wir dachten. Diese Erkenntnis ist enorm wichtig für die weitere Grundlagenforschung, aber auch den klinischen Bereich. Sie zeigt auch: Unser Konzept aus rein humaner Forschung unter Verwendung von Primärzellen gesunder Spender und neurologischer Patienten hat sich bewährt“, resümiert der Direktor der Uniklinik für Neurologie.

Gilt somit also: Je mehr CCR5-Gedächtniszellen im Gehirn, desto besser? Mitnichten. Denn im Gehirn von Patienten mit Multipler Sklerose (MS) finden sich übermäßig viele dieser winzigen Wächter. Zudem sind sie nicht die einzigen Zellen dort. Da bei MS auch die Immunantwort gestört ist, tragen die zahlreichen Wächterzellen dazu bei, dass das Immunsystem überreagiert und das Nervensystem schädigt. Die künftige Herausforderung für MS-Forscher lautet also: Wie schützt man das Gehirn vor zu vielen schädlichen Zellen? „Wir wissen nun, wie die Zellen ins Gehirn kommen, und warum sie das im Fall von HIV und West-Nil-Fieber tun. Was bei der MS eventuell falsch läuft, untersuchen wir im nächsten Schritt“, kündigt Prof. Schwab an.

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