„Wir müssen von den Toten lernen – auch hier“: Prof. Johannes Friemann obduziert und forscht an COVID-19-Opfern

Nicht nur im Obduktionssaal engagiert: Prof. Johannes Friemann vor dem Einband eines Berliner Ärzteblattes, welches seinen ersten Beitrag zum Thema Obduktion enthält (Foto: privat)

Münster (mfm/mw) – Acht Stunden sind kein Tag. Auch kein Arbeitstag – jedenfalls nicht derzeit: Prof. Johannes Friemann und sein Team sind momentan noch beschäftigter als sonst. Fast jede Woche werden im Institut des Ehemaligen der Medizinischen Fakultät der Universität Münster (WWU) - zusätzlich zu den anderen Aufgaben - Menschen, die an oder mit COVID-19 gestorben sind, obduziert. Bis April 2020 war der Pathologe Direktor des Instituts für Pathologie der Märkische Kliniken GmbH in Lüdenscheid und hat bis zum Start seines Nachfolgers auch den Standort Lüdenscheid, der jetzt zum Institut für Pathologie des Universitätsklinikums Köln gehört, geleitet. Seit sechs Jahren ist Friemann Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Deutscher Pathologen (BDP) und weiß: „Aktuelle und künftige Kenntnisse für die Diagnostik und Therapie bei COVID-Erkrankungen werden auch heute noch durch eine unverzichtbare Methode erzielt: durch die klinische Obduktion.“

Sein Hauptziel: Wissen zu sammeln über einen Erreger und über eine Krankheit, die gerade auf der gesamten Welt wüten. In einem an der Uniklinik RWTH Aachen angesiedelten deutschlandweiten Obduktionsregister werden alle Daten von COVID-19-Opfern zentral erfasst, um Material- und Datenanfragen zu Forschungszwecken weiterleiten zu können. Laut einer Umfrage des BDP hatten sich mit Stand Juni 2020 an der Obduktionstätigkeit 26 von 450 deutschen Pathologie-Instituten beteiligt. „Nur zwei Prozent aller an dem Virus Verstorbenen wurden obduziert. Die Zahlen sind viel zu niedrig. Ein weiterer Anlass, die bundesweit äußerst schwierigen Rahmenbedingungen für das Obduzieren zu verbessern“, kritisiert der 68-jährige.

Gemeinsam mit anderen Kollegen im Bundesverband Deutscher Pathologen und in der Deutschen Gesellschaft für Pathologie setzt er sich dafür ein, die strukturellen Hürden für eine bessere Finanzierung der klinischen Obduktionen abzuschaffen. Dies sei mit dem Regierungsentwurf zum Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz nur teilweise gelungen, da die Möglichkeit zur Finanzierung wissenschaftlich begründeter klinischer Obduktionen in dem Entwurf explizit ausgeschlossen werde. Umso wichtiger ist es Friemann aus aktuellem Anlass, der Gesundheitspolitik und der medizinischen Lehre eine Botschaft mit auf den Weg zu geben: „Erkennen und nutzen Sie die integrierende und qualitätssichernde Kraft der Obduktionspathologie für den medizinischen Fächerkanon und unsere Krankenhäuser. Eine engagierte Mitwirkung der klinischen Fächer und selbstverständlich auch eine ausreichende Finanzierung von Obduktionen bleiben hierfür unerlässlich.“

Und wie verhält es sich nun mit der Gretchenfrage, die jeden Tag neu mit der offiziellen RKI-Statistik ins Haus weht? Sterben die Patienten „an“ oder „mit“ Corona? Diese Frage hört der gebürtige Bochumer nicht zum ersten Mal: „Das hängt natürlich mit den Patienten zusammen beziehungsweise mit deren Vorgeschichte. Zunächst ging man davon aus, dass überwiegend schwer erkrankte Personen der Krankheit erlagen – also mit Corona starben“, erklärt der Leiter der Arbeitsgruppe Obduktion des BDP. Inzwischen wisse man aus Ergebnissen einer aktuellen Umfrage unter Pathologen, dass bei mindestens 82 Prozent aller Obduktionen - entgegen der bisherigen Meinung - die COVID-19-Erkrankung als wesentliche oder alleinige zum Tode führende Erkrankung festgestellt wurde.

Einen Schlüssel für das neue Krankheitsgeschehen zu finden, war dem Herzblutpathologen wichtig. Diese Begeisterung für die Pathologie gab es allerdings nicht immer: Friemann kommt aus einer internistisch geprägten Familie und wurde 1978 in der münsterschen Uni-Chirurgie promoviert. Warum sich der damals 30-jährige nach mehrjähriger Tätigkeit in der Klinik in Münster gegen die unmittelbare Arbeit am Krankenbett und für die Pathologie entschied, weiß der in Bochum lebende Westfale noch ganz genau: „Damals habe ich mich als zu ungeduldig für eine Fachrichtung mit direktem Patientenkontakt empfunden. Meine Entscheidung, in die Pathologie zu gehen, bereue ich auch nach über 40 Jahren im Beruf nicht.“ Friemann arbeitete nach dem “Reutlinger Modell“ als angestellter Chefarzt im Krankenhaus und war gleichzeitig niedergelassener Pathologe. Seit diesem Jahr hat der Familienvater im Lüdenscheider Institut seine Arbeitsstunden gekürzt, um mehr Zeit in Tennis und Gesang investieren zu können.

Als ebenfalls richtige Entscheidung sieht er rückblickend sein Studium in Münster: „Wenn ich an meine Zeit als Student denke, hüpft mein Herz“, lächelt Friemann. Obwohl er froh über seinen Umzug in das 100 Kilometer entfernte Kohlenrevier ist, kommt er jedes Jahr  mindestens vier bis fünf Mal in das Herz Westfalens zurück, um alte Freunde zu besuchen, die nach dem Studium dort geblieben sind: „Münster ist einfach immer einen Ausflug wert.“

Text: Maja Wollenburg

(Mit diesem Bericht setzt der Alumni-Verein „MedAlum“ der Medizinischen Fakultät Münster seine Reihe von Porträts ungewöhnlicher „Ehemaliger“ fort. Basis der Serie ist das Absolventenregister von MedAlum.)

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