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Welche Rolle spielte die Hochschulmedizin in der NS-Zeit? DFG-Projekt tritt mit erster Fachtagung an die Öffentlichkeit

Prof. Hans-Peter Kröner, Dr. Ursula Ferdinand und Ioanna Mameli (v.r.n.l.) bilden das Kernteam des NS-Projektes – und arbeiten in einem Gebäude, das im „Dritten Reich“ entstand (Foto: FZ/Thomas)

Münster (mfm/tb) – Welche Rolle hatte die Medizin in der deutschen Hochschullandschaft während Nationalsozialismus und früher Nachkriegszeit? Am kommenden Wochenende [19.-21. November] werden 20 Medizinhistoriker aus dem gesamten Bundesgebiet sowie aus Wien und Prag ihre Forschungsergebnisse hierzu vorstellen. Eingeladen hat sie das Institut für Ethik, Geschichte und Theorie der Medizin der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Vor zwei Jahren bewilligte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) dem dortigen Wissenschaftlerteam um Prof. Dr. Hans-Peter Kröner ein Forschungsprojekt zur Geschichte der münsterschen Medizinischen Fakultät im „Dritten Reich“. Nun wird Zwischenbilanz gezogen.
„Auf dem Symposium wollen wir bisherige Erkenntnisse zur Fakultätsgeschichte vergleichend diskutieren. So soll unter anderem die Hypothese der Besonderheit dieser Einrichtung aufgrund des katholischen Milieus überprüft werden“, sagt Dr. Ursula Ferdinand. Ebenso wie ihre Kolleginnen Ionna Mamali und Beatrice Kaiser hat sie in den vergangenen 24 Monaten Personal- und Verwaltungsakten sowie persönliche Nachlässe in Universitätsarchiven in Münster, Greifswald, Berlin und Rostock, in den Standorten Koblenz und Berlin des Bundesarchivs sowie im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (Berlin) gesichtet; das gefundene Material sortiert und ausgewertet. Eine zentrale Frage, um die es dabei geht: Wie war das Verhältnis von Wissenschaft und Politik während dieser Zeit?
Um differenzierte, wissenschaftlich fundierte Antworten geben zu können, baut das Forscherteam anhand der durchforsteten Akten sowie zahlreicher Selbstzeugnisse von Fakultätsangehörigen eine kollektivbiographische Datenbank auf, in der bisher etwa 200 Personen erfasst sind. „Die politische Zäsur des Jahres 1933 bedeutete für die Medizinische Fakultät in Münster, die sich noch in ihrer Aufbauphase befand, einen tiefen Einschnitt“, betont Ursula Ferdinand. „Das politische Klima änderte sich radikal. Die Situation eskalierte 1933 im Pathologischen Institut und 1933/34 in der Medizinischen Klinik und führte dort zu den Suiziden der Direktoren Walter Gross und Paul Krause. Im Zuge der Gleich- und Selbstgleichschaltung verloren durch das Berufsbeamtengesetz bis 1937 das Pharmakologische Institut, die Augenklinik und die HNO-Klinik ihre Direktoren Hermann Freund, Aurel von Szily und Heinrich Herzog.“   
In einer Einzelstudie hat die Wissenschaftlerin die Umstände untersucht, die zu den Suiziden von Gross und Krause führten. Diese basiert auf Zeitdokumenten, die Aufschluss geben über die „Stimmungslagen“ bei den damaligen Dozenten und Studierenden der Medizinischen Fakultät. In einem weiteren Aufsatz zeichnet Dr. Ferdinand die Lebenswege der entlassenen Direktoren nach. Das Berufsbeamtengesetz betraf auch Assistenten: So verweigerte das Wissenschaftsministerium 1933 die Ernennung des Privatdozenten Dr. Max Adler zum nichtbeamteten Professor, Der Oberarzt an der Frauenklinik hatte einen evangelischen Großvater, der aus einer jüdischen Familie stammte. „Ein solches Stigma bedeutete das Ende einer wissenschaftlichen Laufbahn. Adler verließ die Universität und eröffnete mit seiner Frau, ebenfalls Gynäkologin, eine Arztpraxis in Emden“, so Ferdinand. Ebenso musste der Opthalmologe Helmut Machemer, Assistent bei Augenklinik-Direktor Prof. Aurel von Szily, die Universität verlassen, weil er eine jüdische Ehefrau hatte.
Ferdinands Kollegin Ioanna Mamali hat die Geschichte der Psychiatrischen und Nervenklinik in Münster untersucht. Diese ist untrennbar mit der Person Ferdinand Kehrers verbunden. Dieser Mediziner war einer der wenigen deutschen Lehrstuhlinhaber, die sowohl die Machtergreifung und Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten als auch das Kriegsende 1945 ohne Karriereknick „überstanden“. Bis zu seiner Emeritierung  im Jahr 1953 leitete er die Psychiatrische Klinik. Er wurde der erste Nachkriegsdekan der Medizinischen Fakultät, und als einziger, der als politisch unbelastet galt, übernahm er auch die stellvertretende Leitung der Medizinischen Klinik. Kehrer war Protestant und mit einer Portugiesin jüdischer Abstammung verheiratet. Er war kein Mitglied der NSDAP, arbeitete jedoch von 1934 bis 1938 als ärztlicher Beisitzer beim Erbgesundheitsobergericht Hamm. „Bisher sieht es so aus, als sei Kehrer zwar ein überzeugter Wissenschaftler seiner Zeit, aber kein Nationalsozialist im engeren Sinne gewesen“, berichtet Ioanna Mamali.  „Wie er zur Euthanasie stand und ob er sich an ihr beteiligte, können wir erst dann sicher sagen, wenn wir auch die überlieferten Patientenakten ausgewertet haben.“
Auf die Besetzung der Professorenstellen, die nach den Suiziden und Zwangsversetzungen in den Ruhestand vakant geworden waren, versuchte der Gauleiter von Westfalen-Nord, Dr. Alfred Meyer, Einfluss zu nehmen, um „Alt-Parteigenossen“ zu versorgen. Dagegen versuchte sich die Fakultät zu wehren, hat Dr. Ferdinand feststellen können. Sie schränkt zugleich ein: „Politisch motiviert war dieser Widerstand jedoch nicht.“
Nach 1945 bekamen auffällig viele Wissenschaftler, die eine exponierte Stellung in der NS-Zeit hatten, einen Ruf nach Münster. „Hier untersuchen wir vor allem die Netzwerke gegenseitiger Hilfe und fragen nach der Rolle, die Wissenschaftler der ehemaligen ‚Frontuniversität’ Prag in einem solchen Netzwerk gespielt haben könnten“, berichtet Teamleiter Prof. Kröner. Die Ergebnisse ihrer Forschungen werden er und seine Mitarbeiterinnen unter anderem in einem Sammelband über die Geschichte der Universität Münster im Nationalsozialismus veröffentlichen, den die Historikerkommission unter der Leitung von Prof. Dr. Hans-Ulrich Thamer derzeit vorbereitet.

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