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Reihe "100 Jahre" / Hermann Coenen war 1923 der erste Chirurgie-Professor an der Universität Münster

Die Professoren der Medizinischen Fakultät am Reichsgründungstag 1928 – mit dabei ist auch Prof. Hermann Coenen (untere Reihe, 3.v.l.) (Foto: Archiv Universität Münster)

Prof. Hermann Coenen beaufsichtigt eine Operation im Jahr 1922 an der Universität Breslau. Kurze Zeit später wurde er an die Universität Münster berufen (Foto: F. Reischauer)

Autor Prof. Hans-Georg Hofer ist seit 2015 Professor für die Geschichte und Theorie der Medizin an der Universität Münster (Foto: privat)

Münster (upm) - Für 2025 steht das Jubiläum „100 Jahre Universitätsmedizin Münster“ an. Schon im September 2023 [am 08.09.] aber feiert die dortige Chirurgie ihr 100-jähriges Bestehen – wie geht das zusammen? Die Erklärung: Schon vor der Eröffnung der Medizinischen Fakultät wurde der Mediziner Hermann Coenen nach Westfalen (zurück)geholt. Prof. Hans-Georg Hofer erläutert die Hintergründe, Coenens Rolle beim Aufbau der Fakultät - und sein Wirken in der NS-Zeit.

 Die Anfänge der akademischen Chirurgie reichen in Münster bis ins späte 18. Jahrhundert zurück, als mit der Universitätsgründung auch eine Medizinische Fakultät errichtet wurde. Nach deren Schließung 1818 bestand von 1830 bis 1849 eine „Medicinisch-Chirurgische Lehranstalt“, an der vorrangig Wundärzte ausgebildet wurden. Als auch diese Einrichtung geschlossen wurde, sollte es mehr als ein halbes Jahrhundert dauern, bis sich 1914 die Pläne für eine universitäre Medizin in Münster mit Klinikum konkretisierten.

Die Chirurgische Klinik war neben der Medizinischen Klinik, der Frauenklinik und der Augenklinik eine von vier geplanten Kliniken bei der Neugründung der Medizinischen Fakultät. Eine zügige Umsetzung dieser Bestrebungen machte der Erste Weltkrieg zunichte. Bis 1916 waren von der Chirurgischen Klinik lediglich zwei Geschosse fertiggestellt, danach ruhten die Arbeiten. Erst nach Ende des Krieges wurden diese unter schwierigsten Bedingungen wiederaufgenommen: Es fehlte vor allem an Fachkräften und Baumaterial. So wurde etwa das Eisen für die Deckenträger der Kliniken aus dem Abbruch von U-Boot-Unterständen gewonnen. Die galoppierende Geldentwertung führte dazu, dass Zahlungen vorschussweise geleistet wurden. Es war die Zeit der Hyperinflation, als Hermann Coenen (1875–1956) den Ruf auf den Lehrstuhl für Chirurgie in Münster annahm.

Für Hermann Coenen war die mit der Berufung gegebene Möglichkeit, in die westfälische Heimat zurückzukehren und die universitäre Chirurgie in Münster neu aufzubauen, eine reizvolle Aufgabe. 1875 in Tecklenburg geboren, promovierte er nach dem Medizinstudium in Freiburg, Leipzig und an der Berliner Charité. Dort erhielt er seine Ausbildung bei Ernst von Bergmann, der das Prinzip der Asepsis (Keimfreiheit) etabliert und maßgeblich zur wissenschaftlichen Begründung der Chirurgie beigetragen hatte. 1907 wechselte Hermann Coenen mit dem aus Berlin nach Breslau berufenen Hermann Küttner an die Chirurgische Klinik der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität. Dort habilitierte er sich und arbeitete als Oberarzt.

Ähnlich wie Ernst von Bergmanns war auch Hermann Coenens chirurgisches Wirken vom intensiven Austausch mit der neuen Disziplin der Bakteriologie sowie von eigenen Kriegserfahrungen geprägt. Während der Balkankriege (1912/13) und vor allem im Ersten Weltkrieg entfaltete er eine umfassende kriegschirurgische Tätigkeit. Er war einer der ersten Chirurgen, der lebensrettende Bluttransfusionen im Felde durchführte und damit gute Erfolge erzielte. 1919 erschien seine viel beachtete Monographie zum Gasbrand, der seiner Überzeugung nach „schwersten Geißel dieses Krieges“. Darin führte er Infektionstheorie und chirurgische Praxis in überzeugender Weise zusammen. Eine effektive Therapie der durch Bakterien ausgelösten, häufig tödlich endenden Wundinfektion ermöglichten indes erst Gerhard Domagks Sulfonamide.

In Münster bezog Hermann Coenen 1923 in einem bereits fertiggestellten Trakt der Klinik seine Dienstwohnung. So war er räumlich nahe am Geschehen und konnte auf die Ausstattung der Klinik Einfluss nehmen. Hält man sich die äußeren Schwierigkeiten vor Augen, gelang in Gemeinschaftsarbeit mit den Bauverantwortlichen Erstaunliches: Die Klinik erfüllte damals modernste diagnostisch-therapeutische, hygienische und technische Standards. Dies zeigte sich in den „Operationsabteilungen“, die über Sterilisations-, Destillations- und Kühlvorrichtungen verfügten, in den Röntgeneinrichtungen und Laboratorien sowie in den Krankenstationen mit insgesamt 100 Betten, die mit „Klingeldruckknöpfen“ ausgestattet waren und im Haus mittels eines elektrischen Aufzugs bewegt werden konnten. Ein eigener Hörsaal mit Projektionsapparat und elektrischen Verdunkelungsvorrichtungen sowie Personal-, Sammlungs- und Bibliotheksräume komplettierten die Ausstattung der Klinik. Sie beherbergte überdies eine „HNO-Spezialklinik“, die nach Verselbstständigung 1959 einen eigenen Neubau gegenüber der Chirurgischen Klinik erhielt.

Als Gründungsdirektor der Chirurgischen Klinik und Dekan der Fakultät (1927/28) war Hermann Coenen maßgeblich am weiteren Aufbau der Universitätsmedizin in Münster beteiligt. Parallel dazu weitete er seine eigene Forschung aus – wie etwa zur experimentellen Tumorforschung, zur Einheilung allogener (körperfremder) Knochentransplantate und zur Funktionsweise der Blutgefäße im Falle eines Kollapses und bei Schockzuständen.

Politisch deutschnational gesinnt, wurde Hermann Coenen bereits 1933 NSDAP-Mitglied. Die nach dem „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ unter seiner Verantwortung an der Klinik durchgeführten Zwangsterilisationen befürwortete er. Im Zweiten Weltkrieg war er als beratender Chirurg militärärztlich tätig. Vor Ort machte der Krieg die Aufbauarbeit zunichte. Nach schweren Bombenschäden bezog die Chirurgische Klinik – gemeinsam mit den anderen Kliniken und Instituten – ein Ausweichquartier in Bad Salzuflen. Dort wurde Hermann Coenen im September 1945 entpflichtet. Als neuer Klinikleiter fungierte fortan sein Mitarbeiter Paul Sunder-Plassmann.

In der unmittelbaren Nachkriegszeit zeigte Hermann Coenen Ansätze kritischer Reflexion und unterstützte in der Fakultät die insgesamt spärlichen Bemühungen, Unrecht wiedergutzumachen. 1952 erhielt er die Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. Hermann Coenen starb 1956 in Münster. Zwei Doktorarbeiten, die sich jeweils mit der Geschichte der Chirurgischen Klinik in der Ära Coenen sowie mit ihrer Entwicklung in der Nachkriegszeit befassen, sind in Vorbereitung.   Prof. Hans-Georg Hofer (wissen|leben, Nr. 5/2023)

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