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Hausbesuch im "Holo-Deck": Ulla Schmidt eröffnete die "Studienpraxis Münster"

Ist nicht krank, sondern tut nur kurz so: Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt als \'Patientin\' bei Johannes Püschel, einem der Tutoren in der Studienpraxis Münster

Münster (mfm/tb) – „Der nächste, bitte“. Das Wartezimmer ist voll, die Zeit knapp. Denn natürlich wollen alle Patienten möglichst schnell an die Reihe kommen. Dass sie alle die gleichen Beschwerden haben, nämlich Rückenschmerzen, irritiert den jungen Mann im weißen Kittel, der die Kranken ins Untersuchungszimmer bittet. Aber Rückenschmerzen sind nicht gleich Rückenschmerzen: Einer der der Patienten hat sich nur verhoben, bei einem ist auf einen Prostatatumor zu schließen. Die Ursachen richtig zu erkennen, auch in der Hektik des ärztlichen Alltags, gehört zu den Ausbildungszielen der neuen „Studienpraxis Münster“. Deren offizielle Eröffnung erfolgte heute [20.11.] durch Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt.
„Studienpraxis“ heißt der ambulante Teil, mit dem die Medizinische Fakultät der Universität Münster ihr „Studienhospital Münster“ erweitert. Durch den Ausbau wachsen nicht nur die fachlichen und didaktischen Möglichkeiten der Ausbildungseinrichtung, sondern auch die technischen – bis hin zum ersten „SimuScape“, einem Umgebungssimulator, an dem die Drehbuchautoren von Raumschiff Enterprise ihre Freude hätten.
In dem erst seit einem Jahr bestehenden „Studienhospital Münster“ absolvieren die dortigen Medizinstudenten wesentliche Teile ihrer praktischen Ausbildung. Das umgebaute Schwesternwohnheim machte nach seiner Inbetriebnahme rasch Schlagzeilen als „Krankenhaus der Simulanten“. Innovativ an dem Konzept ist allerdings nicht der damit gemeinte Einsatz von Schauspielern, die als Patienten agieren – die wurden in Münster und andernorts schon vorher eingesetzt. Neu war vor allem das ungewöhnliche Umfeld der Studierenden: Statt in Hörsälen oder Traininglabors, den Skills Labs, lernen die nun in einem realitätsnah nachgebauten Krankenhaustrakt, dessen Detailgenauigkeit bis zum Prothesenglas am Krankenbett reicht.
Von diesem Konzept verspricht sich Studiendekan Dr. Bernhard Marschall nicht nur mehr Praxisnähe im Studium, sondern vor allem eine deutlich erhöhte Lehreffizienz: „Die Lehrforschung hat belegt, dass Wissen und Fähigkeiten, die man unter realen Bedingungen erwirbt, besser erinnerlich und abrufbar sind“, so der Initiator des Studienhospitals. Nebenbei steigere eine solche Einrichtung auch die Effizienz in der Ausbildung, so durch die zeitliche und räumliche Bündelung von Kursen und Seminaren.
Dass dem Krankenhaustrakt schon nach knapp einem Jahr die zweite Ausbaustufe folgen konnte, freut den Studiendekan, denn aus seiner Sicht nehmen die Allgemeinmediziner eine Schlüsselposition im Gesundwesen ein: „Durch ihre meist langjährige Erfahrung haben sie eine Art Filterfunktion und wissen genau, welcher Patient ein Gespräch, welcher ein Rezept und welcher eine Überweisung zum Spezialisten braucht“. Einen hohen Stellenwert verdiene das Gebiet auch angesichts des weiteren Berufsweges der Medizinstudenten, wie der Leiter des Studienhospitals, Dr. Hendrik Friederichs, ergänzt: „Über die Hälfte arbeitet später im ambulanten Bereich“. Und noch aus einem dritten Grund sei es wichtig, sich intensiv mit der Allgemeinmedizin zu befassen: „Gerade auf dem Land ist bereits ein Ärztemangel erkennbar. Dessen Ursachen können wir nicht ändern, wohl aber für den Beruf des Allgemeinmediziners motivieren“, so Friederichs.
Bei der ersten Ausbaustufe des „Studienhospitals“ hat diese Motivation gefruchtet, wie die Ergebnisse der - in Münster obligatorischen - Kursbewertung durch die Studierenden zeigen. Alle Kurse schnitten besser ab, als vor Inbetriebnahme der Einrichtung. Hierdurch bestärkt, übertrugen die Projektverantwortlichen die Grundidee auch auf die Erweiterung. Die neue „Studienpraxis“ erhielt daher vier Praxisräume mit zwei dazwischen liegenden, durch einseitig verspiegelte Scheiben abgetrennten Beobachtungsräumen.
Als gemeinsame Infrastruktur gibt es eine Rezeption sowie ein Wartezimmer, in dem bis zu elf „Patienten“ gleichzeitig sitzen – eine nervositätsfördernde Kulisse selbst für erfahrene Studenten. Im so genannten Phantom-Raum erwartet unter anderem „Harvey“ die angehenden Ärzte, eine rund 50.000 Euro teure Auskultationspuppe mit lebensechten Lungen- und Herzgeräuschen. Drei Kurse laufen bereits in dem neuen Teil, darunter auch ein Praktikum der Geriatrie. In ihm bekommen die Studierenden das Körpergefühl betagter Patienten am eigenen Leibe zu spüren, wenn sie das Altersimulationsset überstreifen: Der unbequeme Anzug macht das Gehen schwer und das Gesichtsfeld eng. Während sie den Krankenhaus-Trakt bereits im vierten Semester durchlaufen, kommen die Nachwuchsmediziner in die „Studienpraxis“ erst drei Semester später.
Der technische Clou im Erweiterungsteil ist das Projekt „SimuScape“, ein Umgebungssimulator, den das Fraunhofer-Institut für Rechnerarchitektur und Softwaretechnik (FIRST) aus Berlin eigens für die Einrichtung entwickelt hat und der in dieser Form weltweit einmalig ist. Der zylinderförmige, rund 25 qm Grundfläche umfassende Anbau erinnert an ein Planetarium. Im Innern projizieren sieben Beamer bewegte Bilder an die Wand, die zu einem 360-Grad-Panorama mit Tiefenwirkung verschmelzen und den Eindruck einer realen Umgebung erzeugen. Wegen der kurzen Entwicklungsphase musste sich Bundesministerin Schmidt bei ihrer SimuScape-Visite mit statischen Bildern begnügen, an mehrminütigen Filmen arbeiten das FIRST-Team aber bereits mit Hochdruck.
Also ein 3-D-Kino zur Bespaßung von Medizinstudenten? „Keineswegs“, stellt Marschall klar. Sowohl im stationären als auch im ambulanten Teil des Studienhospitals bleibe die Ausbildung immer an Räume gebunden. „Ärzte arbeiten aber nicht nur dort“. Als erste Simulation hat er daher einen Fahrradunfall auf dem münsterschen Promenadenring programmieren lassen. Die Dachwohnung einer alten Dame, in der ein Hausbesuch stattfindet, steht ebenso auf der Arbeitsliste der FIRST-Wissenschaftler wie eine Bahnhofstoilette, in der ein Drogenabhängiger zu versorgen ist. Mit den Filmen wird die Realitätsnähe nochmals wachsen - und damit auch der Stressfaktor für die Studierenden. Denn zum simulierten Verkehrsunfall kommt dann noch das Hupen der genervt im Stau stehenden Autofahrer.
Die benötigten Szenarien wird das Team des Instituts für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS), das das Studienhospital betreut, künftig auch selbst drehen können: Zum Arbeitsprinzip der Fraunhofer-Institute gehört es, ihre Neuentwicklungen bei den Nutzern zu verstetigen. Das von FIRST entwickelte Aufnahmeverfahren ist dabei vergleichbar mit dem, das der Internetdienst Google für seine 3-D-Stadtpanoramen einsetzt. Auch das aufwändige SimuScape sieht Studiendekan Dr. Marschall als eine Investition, die sich unter dem Strich auszahlt: „Ein projiziertes Wohnzimmer ist günstiger als jedes echte oder nachgebaute“.
Gekostet hat die „Studienpraxis“ rund 400.000 Euro, die die Medizinische Fakultät aus ihrer Landeszuweisung finanziert. Umgesetzt wurde das Projekt vom Geschäftsbereich Bau und Liegenschaften des Universitätsklinikums Münster sowie externen Fachplanern. Wie schon bei der ersten Realisierungsstufe sind zahlreiche Sponsoren beteiligt, darunter bekannte Namen wie Heine Optotechnik (Diagnosetechnik), die Tunstall GmbH aus Telgte (Kommunikationstechnik) oder Trilux (Licht). Als dritter und abschließender Abschnitt des „Studienhospitals Münster“ - das diese Bezeichnung auch weiterhin führen wird - steht der Bau eines Operationstraktes an, der für 2010 geplant ist.

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