Forschungsprojekte
Die Forschungsprojekte der Prosektur Anatomie befassen sich schwerpunktmäßig mit der Frage, welche Bedeutung programmierter Zelltod für die Frühentwicklung des Nervensystems von Säugetieren hat. Die Untersuchungen werden an Labormäusen, aber auch an Schnittserien der Primaten-nahen Tupaia belangeri durchgeführt.
Ungeachtet der Tatsache, dass physiologisch auftretende Häufungen abgestorbener Zellen seit mehr als hundert Jahren in verschiedenen Organanlagen junger Embryonen beobachtet worden sind, besteht noch heute in vielen Fällen Unklarheit darüber, welche Funktionen solche "programmiert" auftretenden Zelltodereignisse tatsächlich haben und wie sie reguliert werden.
Unsere in der Göttinger Anatomie gegründete AG Neuroembryologie hat sich zunächst mit der Frage auseinandergesetzt, mit welchen Methoden die schnell ablaufenden und daher in komplex aufgebauten Organanlagen schwierig zu fassenden Apoptoseereignisse zuverlässig analysiert werden können.
Zu diesem Zweck haben wir in Kooperation mit der TU Chemnitz und der Firma Zeiss ein hochauflösendes Scan- und Rekonstruktionssystem etabliert, mit dessen Hilfe widersprüchliche Angaben über den Ablauf von Apoptoseereignissen relativiert und neuartige, zeitlich- und räumliche gerichtet auftretende Apoptosemuster aufgedeckt werden konnten (DFG: KN 525/1-1, KN 525/1-2, BR 1185/4-1).
Beispielsweise stellte sich heraus, dass vermeintlich isoliert im Augenbläschen auftretende Apoptoseereignisse in Wirklichkeit Teil eines weit ausgedehnteren Prozesses sind, der im Extremfall das gesamte Vorderhirn einschließlich beider Augenanlagen bilateral-symmetrisch erfasst.

3D-Rekonstruktion von Apoptoseereignissen (rot) im Vorderhirn und in den Augenanlagen eines Tupaia-Embryos.
Anschließend konnten wir nachweisen, dass Apoptoseereignisse im segmentierten Rhombencephalon von Säugetieren nicht statistisch gestreut, sondern segmentspezifisch auftreten.

3D-Rekonstruktion von Apoptoseereignissen (rot) im Rhombencephalon eines Tupaia-Embryos; Grenzen der Rhombomere 2 - 6 durch gestrichelte Linien hervorgehoben; blau: Schwärme migrierender Neuralleistenzellen.
Desweiteren haben wir durch 3D-Rekonstruktionen herausgefunden, dass Apoptoseereignisse dorsale und ventrale Schlüsselpositionen des Rückenmarks während der Neurulation nicht nur einmal, sondern mehrfach in zeitversetzten Wellen durchlaufen - eine Beobachtung, die auch widersprüchliche experimentelle Befunde über den Beitrag von Zelltod zum Neuralrohrverschluss erklären könnte.

3D-Rekonstruktion des Rückenmarks eines Tupaia-Embryos; links: entstehende Spinalnerven (gelb), migrierende Neuralleistenzellschwärme (blau); rechts: Momentaufnahme zweier "Wellen" von Apoptoseereignissen (rot), die die dorsale Mittellinie des Rückenmarks durchlaufen.
Aktuell steht die Entwicklung der Plakoden im Vordergrund unserer Forschungsinteressen. Plakoden leiten sich - wie das Neuralrohr und die Neuralleistenzellen - vom Ektoderm ab und sind vorübergehend als fleckförmige Verdickungen im Kopf-Hals-Übergangsbereich sichtbar. Aus ihnen gehen überwiegend Nervenzellen des peripheren Nervensystems, zusätzlich aber beispielsweise auch die Augenlinse hervor.

3D-Rekonstruktion von Plakoden im Oberflächenektoderm; gelb: neurogene Epibranchialplakoden.
Interessanterweise entstehen Plakoden nicht isoliert an ihren definitiven Positionen, sondern stammen allesamt von einem zusammenhängenden, weit ausgedehnteren Anlagegebiet ab, das das Vorderende des Embryos hufeisenförmig umgibt.

Panplakodales Primordium eines Mausembryos: Neuralplatte (NP) und Neuralleiste (NL) werden hufeisenförmig vom panplakodalen Primordium (PP, blau, Expression von Six1) umgeben. Dieses enthält bereits die Anlagen von Ohr- und Epibranchialplakoden (gelb, Expression von Pax2).
Wir konnten nachweisen, dass Apoptoseereignisse sowohl bei Tupaia als auch bei Mäusen massiv zur Umwandlung dieses panplakodalen Primordiums zu individuellen Plakoden beitragen.

Apoptoseereignisse (rot) unterstützen die Herausbildung von drei Epibranchialplakoden (1 - 3) sowie der Ohrplakode (op) aus kaudalen Abschnitten des panplakodalen Primordiums (Linie) von 8,5 bis 9,5 Tage alten Mausembryonen; blau: Neuroblasten exprimieren Neurogenin2.
Jetzt wollen wir unter Einsatz verschiedener genetisch veränderter Mausmodelle herausfinden, welche Zellen des panplakodalen Primordiums bzw. der bereits strukturell individualisierten Plakoden durch Apoptose eliminiert werden, welche Faktoren diese Apoptoseprozesse regulieren und wie sich die experimentelle Unterdrückung der beobachteten Apoptoseprozesse auf die Morphogenese der Plakoden auswirkt. Weitere experimentelle Ansätze gehen der Frage nach, ob Vorläuferzellen innerhalb des Plakodenprimordiums von Säugetieren migrationsfähig sind und wie das Auswandern von Neuroblasten aus den definitiven Plakoden vonstatten geht.