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Schlaganfall-Forschung: Neue Studie widerlegt These der zerstörerischen Rolle von Immunzellen

Ein Blutgefäß im Gehirn: Entgegen der gängigen Lehrmeinung dringen die neutrophilen Granulozyten (rot) nicht in das Gehirngewebe ein (Foto: WWU/L. Sorokin)

Münster - Wissenschaftler der Universitäten Münster, Bern, Berlin, Freiburg, Tübingen und Frankfurt haben in einer Studie neue Erkenntnisse über die Ursachen des Schlaganfalls gewonnen. Diese Ergebnisse erfordern eine vollständig neue Untersuchung der tatsächlichen Ursachen für das Absterben der Nervenzellen nach einem Schlaganfall und eröffnen somit neue Ansätze für die Behandlung des Schlaganfalls.
Um die Rolle der Entzündungsreaktion nach einem Schlaganfall einschätzen zu können, konzentrierten sich die Forscher in ihren Untersuchungen auf den Einfluss einer Gruppe von Immunzellen, den neutrophilen Granulozyten, die Teil der schnellen Immunantwort bei Infektionen und Traumata sind. Nach gängiger Lehrmeinung sind diese Immunzellen besonders schädlich, da man bislang davon ausging, dass sie nach einem Schlaganfall in das Gehirn einwandern und dort die Nervenzellen zerstören. Jetzt gelang erstmals der Nachweis, dass neutrophile Granulozyten nach einem Schlaganfall in den Blutgefäßen des Gehirns steckenbleiben und somit nicht bis zu den Nervenzellen vordringen.
Auch Prof. Dr. Lydia Sorokin, die zu den Autoren der Studie zählt, ist davon überzeugt, dass "die Schlaganfall-Therapie jetzt neu überdacht werden muss". Die Direktorin des Instituts für Physiologische Chemie und Pathobiochemie der Universität Münster (WWU) führt den Erfolg der Studie vor allem auf die enge Zusammenarbeit von Grundlagenforschern und klinischen Kollegen zurück. "Ohne die Entwicklung neuer immunhistologischer Analyseverfahren im Tiermodell hätten wir nie feststellen können, dass neutrophile Granulozyten in den Blutgefäßen stecken bleiben; und ohne die Neuropathologen und Neurologen hätten wir die Bedeutung für den Schlaganfall nie beweisen können", betont die Forscherin. Lydia Sorokin zählt auch zum Koordinatoren-Team des Exzellenzclusters "Cells in Motion" (CIM) der Universität Münster, bei dem es vor allem darum geht, das Verhalten von Zellen in lebenden Organismen sichtbar zu machen und zu untersuchen. "Diese Studie zeigt, dass das CIM-Konzept der richtige Weg ist und zu neuen Ergebnissen verhilft."
Der Schlaganfall ist weltweit die dritthäufigste Todesursache und die häufigste Ursache für Behinderungen im Alter. In Deutschland erleiden jährlich etwa 200.000 Menschen einen Schlaganfall. Ein Schlaganfall entsteht, wenn die Durchblutung des Gehirns "schlagartig" unterbrochen wird. Am häufigsten geschieht dies durch ein Blutgerinnsel (Thrombus), das in einem Blutgefäß im Gehirn steckenbleibt und dieses verstopft. Verminderte Durchblutung des Gehirnbereichs, der durch dieses Blutgefäß versorgt wird, führt zu einem Mangel an Sauerstoff und Nährstoffen und innerhalb von Stunden zum Absterben der Nervenzellen in diesem Areal des Gehirns.
Selbst wenn durch rasche medizinische Versorgung in einer „Stroke-Unit“ die Blutversorgung im betroffenen Gefäß wiederhergestellt wird, sterben in den Tagen nach dem Schlaganfall weitere Nervenzellen im Gehirn ab. Dafür macht man eine Entzündungsreaktion verantwortlich. Die Zellen des Immunsystems versuchen nach einem Schlaganfall die toten Gehirnzellen zu entsorgen und wandern dazu aus dem Blutkreislauf in das betroffene Gehirnareal ein. Bislang ging man davon aus, dass auch neutrophile Granulozyten in das Gehirn wandern und dort weitere Nervenzellen töten - diese Gruppe von Immunzellen ist darauf spezialisiert, bei Infektionen und Traumata schnell zu reagieren, Keime zu zerstören und tote Zellen zu fressen. Alle Therapieansätze, die das Auswandern der neutrophilen Granulozyten in das Gehirn blockieren oder ihre Funktion behindern, blieben allerdings bislang in klinischen Studien zur Behandlung des Schlaganfalls erfolglos.
Die neue Studie von Biochemikern, Zellbiologen, Neuroimmunologen und Ärzten (Neuropathologen, Neurologen) löst nun dieses Rätsel. Auf Basis neuer immunhistologischer Analyseverfahren haben die Wissenschaftler belegt, dass die neutrophilen Granulozyten nach einem Schlaganfall nicht in das Gehirngewebe auswandern. Diese gefährlichen Zellen des Immunsystems gelangen somit nicht in die Nähe der Nervenzellen.
Die Forscher zeigen in ihrer Studie auf, wie es in der Vergangenheit zu der Fehlinterpretation der Lokalisation der neutrophilen Granulozyten nach dem Schlaganfall gekommen ist. Zum einen gab es bis vor kurzem wenig Möglichkeiten, die neutrophilen Granulozyten von anderen Fresszellen des Immunsystems eindeutig zu unterscheiden. Zum anderen sehen sterbende Nervenzellen den neutrophilen Granulozyten mit gängigen Färbeverfahren, wie sie routinemäßig angewendet werden, zum Verwechseln ähnlich. Das Gehirn ist ein sogenanntes immunprivilegiertes Organ, das sich vor gefährlichen Zellen des Immunsystems zu schützen weiß. Die Forscher weisen in ihrer Studie besonders darauf hin, dass sich das Gehirn dazu mit zwei "Mauern" (Basalmembranen) umgibt. Zur Immunüberwachung wandern Zellen des Immunsystems ständig vom Blutkreislauf in die Umgebung aus. Während sie in anderen Organen nach dem Durchqueren der Blutgefässwand im Gewebe angelangt sind, befinden sie sich im Gehirn erst zwischen den Mauern in einem Vorzimmer. Bei entzündlichen Erkrankungen des Gehirns wie etwa der Multiplen Sklerose wandern Immunzellen durch die zweite Mauer hindurch und richten im Gehirn großen Schaden an.
Beim Schlaganfall gelingt es den neutrophilen Granulozyten nicht, die Mauern zu durchbrechen. Es stellt sich nun die Frage, ob und wie neutrophile Granulozyten die Neurone über eine "Fernwirkung" schädigen könnten. Die Blutgefäße im Gehirn sind anders als jene in anderen Organen, da sie den Stofftransport in das Gehirn und aus dem Gehirn streng kontrollieren. Sie etablieren die Blut-Hirn-Schranke. Ob die neutrophilen Granulozyten zu einer lokalen Störung der Blut-Hirn-Schranke führen, muss noch untersucht werden.

Link zur Studie

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