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3.920 Stunden Unterrichtszeit täglich: Mediziner der WWU haben Lehrbetrieb wieder aufgenommen

Blick in die Schaltzentrale der medizinischen Online-Lehre an der Uni Münster: Studiendekan Prof. Bernhard Marschall, Dr. Helmut Ahrens und PD Dr. Jan Becker (stehend, v.r.n.l.) mit den diensthabenden Studierenden aus dem „MeDocs“-Team. Auf dem großen Bildschirm sind die aktuell laufenden Lehrveranstaltungen zugeschaltet (Foto: WWU / Erk Wibberg)

Kehl allein im Raum – aber im richtigen: Klinikdirektor Prof. Hans-Gerd Kehl unterrichtet live „seine“ zu Hause zugeschalteten Studierenden im Fach Kinderheilkunde (Foto: WWU / Erk Wibberg)

Auf dem großen Bildschirm können die Referenten kontrollieren, was die zugeschalteten Studierenden sehen (Foto: WWU / Erk Wibberg)

Münster (mfm/tb) – Mehrere Wochen lang mussten sie in die Röhre gucken. Jetzt schauen sie stattdessen in ein Mikroskop. Oder besuchen einen der anderen 48 Räume, in denen medizinisches Wissen angeboten wird. Am Dienstag nach Ostern - und damit eine Woche früher als für ihre Kommilitonen - hat für die Medizinstudierenden der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (WWU) der Lehrbetrieb nach der Corona-Zwangspause wieder begonnen. Die Ausbildung läuft auch an der Domagkstraße jetzt komplett digital - und das erstaunlich gut. Nach Auswertung der Statistiken und Nutzerstimmen zieht die Medizinische Fakultät der WWU eine durchweg positive Bilanz für den radikalen Wechsel, den universitäre Lehre derzeit allerorts durchlebt: die Umstellung auf Online-Wissensvermittlung.

„Eine rein digitale Lehre bedeutet einen großen Lernprozess für alle Seiten, für Hochschullehrer ebenso wie für Studierende“, sagt Dr. Helmut Ahrens. Der Orthopäde ist Mitarbeiter des Instituts für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS) und als solcher mit der praktischen Umsetzung des neuen Lehrkonzeptes befasst. Kleinere Begleiterscheinungen, wie pseudowitzige Pseudonyme, mit denen sich einzelne Studierende anfangs einloggen wollten, hätten sich schnell „herausgewachsen“, so der Mediziner: „Lehre ist nicht Facebook, hier gilt nur eine Identität, und das ist die per WWU-Kennung nachgewiesene“, schmunzelt der Mediziner.

Die Lehrkräfte vermissen nach eigenem Bekunden zwar den direkten Kontakt, stellen aber überrascht fest, dass die Interaktion darunter nicht leidet – im Gegenteil: „Mehrere Referenten teilten mit, dass die Zahl der Anmerkungen und Fragen sogar zugenommen hat. Vielleicht fällt es der heutigen digitalen Generation leichter, sich in eine Videokonferenz einzuklinken als sich in einer Vorlesung mit Handzeichen zu melden“, vermutet Ahrens.

Die digitale Lehre, die er und seine Kolleginnen und  Kollegen vom IfAS derzeit umsetzen, folgt einem innovativen Konzept und wurde über mehrere Wochen hinweg vorbereitet. „Wir wollten nicht einfach nur Vorlesungen abfilmen oder Materialien zum Download anbieten. Das Ziel war von Beginn an ein digitaler Lehrbetrieb, der sich nicht als eine ‚Notlösung‘ versteht, sondern 1 zu 1 den realen abbildet – vom Kleingruppen-Unterricht über den Mikroskopie-Kurs bis zur großen Vorlesung“, erläutert Studiendekan Prof. Bernhard Marschall, der das Konzept erarbeitet hat. Eine von dessen Grundideen: Die rund 100 Zoom-Kanäle, die die Medizinische Fakultät angekauft hat (noch bevor der Anbieter seine Preise erheblich erhöhte), sind bestimmten Räumen zugewiesen.  In diese Lokalitäten – vom kleinen Seminarraum bis zum großen Hörsaal mit 550 Plätzen – treten die Hochschullehrer und die Studierenden ein – erstere weiterhin „in echt“, die anderen virtuell.

Das Lehrgebäude der WWU-Mediziner hat sich mit diesem Konzept in eine Art Flughafen-Terminal verwandelt – in der die „Abfertigung“ den Corona-Zeiten gemäß mit Ruhe, Abstand und Schutzmaske abläuft. An Check-In-Schalter begrüßt von 7 bis 19 Uhr ein studentisches Betreuerteam, die „MeDocs“, die Lehrkräfte, geleitet diese zum richtigen Raum und leistet bei Bedarf technische Unterstützung. Auf großen Bildschirmen wird angezeigt, wann und wo die nächste Veranstaltung „abhebt“. Umgekehrt sehen die Studierenden in ihrem persönlichen Studentenplan, der auch auf dem Smartphone aufrufbar ist, welches Tagesprogramm für sie ansteht. Die Studierenden versammeln sich im Vorraum, bis der Referent sie – nach entsprechender Legitimation – hereinbittet.

Schon unmittelbar nach Einstellung der regulären Lehrbetriebes Mitte März begannen die Vorarbeiten für die digitale Lehre. Am 6. April startete die Pilotphase, am Gründonnerstag folgte ein Stresstest, der zeigen sollte, ob die „Leitungen“ der Übertragung der benötigten riesigen Datenmengen gewachsen sein würden. Dafür lud das IfAS 1.500 Studierende ein, in zehn virtuellen Veranstaltungsräumen gleichzeitig die Bandbreite zu checken – die Technik hielt stand. Am Dienstag nach Ostern (14.04.) konnte dann der Normalbetrieb starten; aufgrund des in der Medizin sehr engen Lehrplans erhielt der Fachbereich hierfür eine Sondergenehmigung.

Die erste Bilanz fällt äußerst positiv aus: „An den ersten drei Tagen liefen im Schnitt 132 Veranstaltungen; diese hatten 4.405 Teilnehmer mit einer Anwesenheitszeit von insgesamt 235.219 Minuten, entsprechend 3.920 Stunden täglich“, rechnet Prof. Marschall vor. Die Technik habe völlig störungsfrei funktioniert, so der Studiendekan. Das ist auch deshalb wichtig, da die schon laufenden Lehrveranstaltungen noch nicht alle 3.000 Studierenden an der Fakultät einbeziehen und sich abzeichnet, dass die Kennzahlen der digitalen Lehre noch steigen werden.

Möglich war der Kraftakt nicht zuletzt dank bestehender Ressourcen und Erfahrungswerte: „Die digitale Lehre ist für uns kein Neuland, mit ihren Möglichkeiten und Grenzen befassen wir uns schon seit Jahren“, erläutert Studiendekan Prof. Bernhard Marschall. Die Curriculums-Planer um PD Dr. Jan Becker strickten in kürzester Zeit einen online-tauglichen Stundenplan, die IT-Abteilung um Dr. Ulrich Kathöfer programmierte, was nicht „von der Stange“ zu kaufen war. Und mit den „MeDocs“ stand ein Team technisch versierter Studierender zur Verfügung, das Dr. Ahrens über Jahre für sein Lehrzentrum LIMETTE aufgebaut hatte und nun nahtlos in die Online-Lehre einsteigen konnte. „Wir sind mehr als 30 Kommilitonen aus der Human- und Zahnmedizin und haben uns in vier Wochen lang intensiv auf den Tag X vorbereitet“, berichtet MeDocs-Mitglied Philipp Schiller. Zu den Vorkehrungen gehörten unter anderem Schulungen, die Produktion von Podcasts und der Aufbau einer Hotline. „Das war viel Arbeit, aber die hat sich gelohnt“, freut sich auch Schiller über die gelungene Premiere.

Ausgenommen von der Online-Lehre sind nur einige Kurse, die die Mitwirkung von Patienten erfordern. Wobei damit „echte“ gemeint sind, nicht die Simulationspatienten aus dem „Studienhospital Münster“ - die sind schon jetzt in die digitale Didaktik integriert. Für Kurse mit realen Kranken prüft das IfAS, ob diese wie bisher in Kleinstgruppen (drei bis sechs Studierende plus Supervisor) im Patientenzimmer und mit zugleich nochmals erhöhter IT-Abschottung stattfinden können. „Wir wollen auf die echte Interaktion nicht ganz verzichten. Wo wirklich eine Untersuchung mit Anfassen nötig ist, werden einige wenige Teile der Praktika später nachgeholt oder bei praktischen Einsätzen unter Supervision kontrolliert erfolgen“, kündigt Prof. Marschall an.

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