Vom Modellprojekt zum Rechtsanspruch: WWU-Alumnus Wolf Diemer lebt für die, die am Ende ihres Lebens stehen

Der Palliativ-Pionier Dr. Wolf Diemer dort, wo er sich am wohlsten fühlt: in seiner Wahlheimat Herdecke (Foto: V. Szary/Westfalenpost)

Münster (mfm/sw) – Sie sei die Wissenschaft der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten oder Verletzungen, definiert Wikipedia die Medizin – und lässt dabei ein wichtiges Feld außen vor. Wo die Heilkunst an ihre Grenzen stößt, tritt die Palliativmedizin auf den Plan – eine Fachdisziplin, die mit besonderen Herausforderungen verbunden ist und mit der sich viele Ärztinnen und Ärzte schwertun. Nicht so Dr. Wolf Diemer. Der Ehemalige der Westfälischen-Wilhelms-Universität (WWU) Münster lebt für die, die nicht mehr lange zu leben haben. Diemer hat sich jahrzehntelang für die Palliativmedizin stark gemacht und es dabei sogar bis ins Bundesgesundheitsministerium geschafft. Der 66-Jährige ist zwar seit 2021 offiziell im Ruhestand, hat sein „Lebenswerk“ aber längst noch nicht abgeschlossen – seine Vision ist ein palliatives Hospiz in seiner Wahlheimat Herdecke.

Die Palliativmedizin hat viele Facetten – und ein einheitliches Ziel: die ganzheitliche Behandlung von Patienten an deren Lebensende. Während eine Palliativstation besonders auf die Schmerzbehandlung ausgerichtet ist und darauf, die Patienten wieder nach Hause zu entlassen, richtet sich Hospize in Deutschland bisher an Patienten mit einer fortgeschrittenen unheilbaren Erkrankung, die ihre verbleibende Lebenszeit in der Einrichtung verbringen wollen. Ambulante Palliativversorgung wiederum legt ihren Fokus auf die Pflege zu Hause, ein Ansatz, den auch Wolf Diemer sehr schätzt.  Für das palliative Hospiz schwebt ihm eine Variante vor, die - ähnlich wie eine Palliativstation - auch eine frühzeitige Behandlung im Hospiz und gegebenenfalls die ambulante Weiterbehandlung zu Hause ermöglicht.

Dem gebürtigen Oberhausener lag die Palliativmedizin und Schmerzbehandlung „von Anfang an am Herzen“ – so hat er nach seiner Promotion an der WWU weiterhin in der Anästhesiologie gearbeitet und dort auch seine Facharztweiterbildung absolviert. Von Münster aus zog er 1993 nach Greifswald – eine für den Mediziner prägende Etappe begann. Schnell ergab sich eine Gelegenheit, die Palliativmedizin an der dortigen Uniklinik aufzubauen: Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) schrieb ein Modellprojekt zur ambulanten Palliativversorgung aus – und Diemer ergriff diese Chance.

„Eine Einrichtung, wie wir sie uns vorgestellt haben, war damals im Gesundheitssystem nicht vorgesehen – aber notwendig“, so der Facharzt. Denn: „Viel zu oft werden Patienten stationär behandelt, bei denen das auch ambulant ginge.“ Diemers Einsatz hatte Erfolg: Im Herbst 2005 konnte das gemeinsam mit dem Krankenhausseelsorger initiierte Hospiz am Uniklinikum Greifswald eröffnen, 2011 folgte die erste Palliativstation - und zuvor bereits die Spezialisierte ambulante Palliativversorgung, kurz SAPV. Durch das Modellprojekt hatte Diemer „Blut geleckt“. Nach langer Lobbyarbeit für bessere Bedingungen kam er auf die Einladungsliste des BMG und damit in dessen Marmorsaal, für eine Expertenanhörung: „Stundenlang haben wir auf unbequeme Nachfragen geantwortet, Rede und Antwort gestanden sowie versucht zu überzeugen“, erinnert sich der Arzt. „Dennoch hatten wir das Gefühl, dass das alles für die Katz war“. Zehn Tage später die Überraschung: Das BMG verfasste einen Gesetzesentwurf. Der Mediziner war sprachlos – und glücklich. 2007 trat im Sozialgesetzbuch V der Paragraph 37b in Kraft, darin verankert der Anspruch eines jeden Patienten mit fortgeschrittener lebensverkürzender Erkrankung auf ambulante Palliativversorgung.

Nach über zehn Jahren an der Ostsee zog es den Mediziner 2009 zurück nach Nordrhein-Westfalen und an das Evangelische Krankenhaus Herne. Dort leitete er elf Jahre lang die Palliativstation: „Ich konnte arbeiten, wie es in einer solchen Einrichtung sein sollte - das bedeutet vor allem, sich viel Zeit für den einzelnen Patienten zu nehmen“. Erst Mitte 2021 ging er in den Ruhestand – wobei von „Ruhe“ keine Rede sein kann, denn Diemer widmet sich weiter der ambulanten Palliativversorgung in Herne und Umgebung. Von Kollegen wurde er für Buchprojekt „Geschichte der Hospizbewegung in Deutschland“ als einer der 77 bedeutendsten Pioniere der Hospiz- und Palliativbewegung interviewt. Schon als ärztlicher Leiter in Greifswald und Herne war Diemer auf der ganzen Welt unterwegs, um sich verschiedene Hospize und Palliativstationen anzuschauen und daraus Ideen zu schöpfen, die er immer noch in das deutsche System transferieren will.

Was ihm besonders an seinem Tätigkeitsfeld gefällt? „Das Spektrum der Palliativmedizin erweitert sich ständig. So wird die Palliativstation in Herne in diesem Jahr ausgebaut und seit 2010 nehmen wir neben Krebspatienten auch andere auf. Denn was oft vergessen wird: Nicht nur Krebs und Altersschwäche führen zum Tod – auch Menschen mit fortgeschrittenen Gefäß-, Herz-, Lungen- oder neurologischen Erkrankungen können Palliativpatienten sein“. Als ärztlicher Leiter hat Diemer die Palliativstation in Herne geprägt – klar, dass er aktuell auch bei der Vorbereitung des Symposiums zum 30-Jahre-Jubiläum (Juni 2022) dieser ältesten Palliativstation in Westfalen einbringt.

Auf seine Zeit an der WWU blickt Wolf Diemer gern zurück – und steht auch mit der Universitätsmedizin noch in Kontakt. „Insbesondere mit Kolleginnen der Palliativmedizin und einzelnen Studierenden habe ich beruflich weiterhin zu tun“. Auch den Botanischen Garten der Universität besucht er mindestens einmal im Jahr. Am wohlsten fühlt er sich der Facharzt jedoch in seiner knapp 80 Kilometer entfernten Wahlheimat Herdecke: Mit seinem Haus, von dem man, so Diemer, „auf das gesamte Ruhrgebiet blicken kann“, ist er mehr als zufrieden. „Andere kaufen sich ein Feriendomizil am Meer, wir haben uns eines in Ruhrgebiet geschaffen. Meine Frau kann hier gärtnern und ich konzentriere mich weiter auf die Palliativmedizin, insbesondere auf ein neues Hospiz für Herdecke und Umgebung“. Das hört sich an wie ein guter Plan.

Text: Stella Willmann

(Mit diesem Bericht setzt der Alumni-Verein „MedAlum“ der Medizinischen Fakultät Münster seine Reihe von Porträts ungewöhnlicher „Ehemaliger“ fort. Basis der Serie ist das Absolventenregister von MedAlum.)

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