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„Seid fruchtbar und mehret euch“: In Europa zunehmend leichter gesagt als getan

Prof. Stefan Schlatt

Die Zeugungsfähigkeit westlicher Männer nimmt ab - und gibt Forschern Rätsel auf
Münster (mfm/tw) – Seit Jahrzehnten werden in der „Ersten Welt“ immer weniger Kinder geboren. In vielen europäischen Ländern reichen die Geburtenraten längst nicht mehr aus, um die Einwohnerzahl aufrecht zu erhalten. Deutschland ist Schlusslicht, auf 1.000 Einwohner kamen im letzten Jahr 7,9 Neugeborene – aber auch EU-weit sind es gerade 10,7. Gründe dafür sind bekannt, vom Pillenknick bis zum Karrierestreben. Das erklärt viel, ist aber nicht die ganze Wahrheit. Es liegt wohl auch an den Männern – denn die Samenqualität in den Industriestaaten nimmt ab.
„Die Möglichkeiten künstlicher Befruchtung werden in Europa immer häufiger genutzt“, erläutert Stefan Schlatt, Professor der Universität Münster und Leiter des dortigen Centrums für Reproduktionsmedizin und Andrologie (Männerheilkunde). „Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass die Gründe dafür vielleicht auch in nachlassender Zeugungsfähigkeit der Männer zu suchen sind.“ Schlatt ist einziger deutscher Mitautor eines umfangreichen Berichtes, den die European Science Foundation (ESF) nun veröffentlicht hat. Das Thema: „Male Reproductive Health“, also Männergesundheit aus dem Blickwinkel der Fortpflanzung.
Die nachlassende Qualität des Spermas ist die auffälligste Entwicklung. In den letzten 50 Jahren ist die Spermiendichte bei Männern in Industriestaaten stark zurückgegangen, gerade bei jungen Menschen. In den meisten Fällen wirke sich das nicht direkt auf die Fortpflanzung aus, so Schlatt. Es gibt aber eben auch mehr Männer, bei denen die Spermiendichte ein kritisches Maß unterschreitet und dadurch eine Befruchtung unwahrscheinlicher macht. Die Entwicklung hat nicht nur auf die Geburtenrate Einfluss: Männer mit schlechterer Spermaqualität haben statistisch eine kürzere Lebenserwartung. Die Gründe sind unklar. Neben der Spermiendichte befasst sich der Bericht mit anderen medizinischen Männerproblemen. Hodenkrebs etwa tritt deutlich häufiger auf als noch vor 50 Jahren, vorgeburtliche Entwicklungsstörungen an Hoden und Penis nehmen zu und der durchschnittliche Testosteronlevel sinkt. All das hat Einfluss auf die Fruchtbarkeit.
Die Gründe für diese Entwicklungen sind vielfältig und noch nicht umfassend erforscht. „Es ist erstaunlich, wie viele grundlegende Dinge die Wissenschaft hier noch nicht versteht“, sagt Schlatt. „Einzelne Zusammenhänge sind bekannt. Faktoren des Lebensstils, wie Übergewicht und Rauchen, tragen sicher zu den Problemen bei, auch auf genetischer Ebene haben wir Anhaltspunkte“. Ein umfassendes, konsistentes Bild ergibt all das noch nicht. Möglicherweise wirken sich die Probleme der Männergesundheit direkt auf das Herz-Kreislauf-System aus. Nachgewiesen ist jedenfalls, dass Betroffene öfter unter Typ-2-Diabetes und Übergewicht leiden. Schlatt sieht Forschungsbedarf vor allem in diesem Kontext – die demographische Entwicklung sei eher nachrangig, da der Einfluss von Fortpflanzungsproblemen meist durch andere Faktoren überdeckt werde.
Die 1974 gegründete ESF, eine unabhängige Stiftung zur Förderung wissenschaftlicher Zusammenarbeit in Europa, veröffentlicht regelmäßig Berichte zu unterschiedlichsten (nicht nur medizinischen) Sachfragen. Sieben Experten haben den aktuellen Bericht verfasst, sie kommen aus Spanien, Großbritannien, Frankreich, Finnland, Dänemark, Deutschland und den USA. Die ESF stellt dem Fachartikel einen Empfehlungskatalog bei, in dem Baustellen der Forschung benannt werden. Sie fordert eine bessere Aufklärung über das öffentlich wenig beachtete Forschungsfeld, die Stärkung der interdisziplinären Forschung und die Durchführung von epidemiologischen Langzeitstudien. Konkret soll ein multidisziplinäres Europäisches Forschungsnetzwerk unter Beteiligung des von Schlatt geleiteten Centrums aufgebaut werden – in engem Austausch mit Netzwerken in den USA, in Asien und anderen Teilen der Welt.

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