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Risiken der MS-Therapie mit Alemtuzumab besser einschätzen: Studie schafft Basis für neue Prognose-Methode

War maßgeblich an der Studie zum Zusammenhang von Alemtuzumab und sekundärer Autoimmunität beteiligt: Klinikdirektor Prof. Heinz Wiendl (Foto: Witte/Wattendorff)

Münster/Düsseldorf (mfm/kh) - Wer bereits morgens vom Stau weiß, meidet vielleicht die Autobahn. Wer aus der Vorhersage erfährt, dass ihm drei Wochen Regenwetter blühen, der sagt die Fahrradtour vermutlich ab. Schon bei solchen Kleinigkeiten richten wir uns nach Prognosen. Was wäre erst, wenn eine Prognose mich vor gefährlichen Nebenwirkungen schützen könnte? Im Hinblick auf die Multiple Sklerose (MS) haben Neurologen der Universitäten Münster und Düsseldorf nun einen möglichen Weg für solche Vorhersagen gefunden. Ihre Erkenntnisse – soeben veröffentlicht in der Fachzeitschrift BRAIN - können MS-Patienten helfen, die mit Alemtuzumab behandelt werden.

Eigentlich eliminiert dieser Wirkstoff Immunzellen, die das Molekül CD52 auf ihrer Oberfläche tragen; das sind vor allem T- und B-Zellen. So wirkt es gut und auch bei vielen Menschen nachhaltig gegen die schubförmige Multiple Sklerose. In einigen Fällen löst das Präparat im Laufe der Zeit aber ungefähr das aus, was es eigentlich bekämpfen soll: den Angriff des Immunsystems auf körpereigene Strukturen. Am häufigsten zeigt sich das in Erkrankungen der Schilddrüse, aber auch Schäden an Blutzellen oder der Niere können die Folge sein.

Während ein „normales“ Medikament einfach abgesetzt wird, wenn Nebenwirkungen auftreten, ist das bei Alemtuzumab nicht möglich: Das Präparat wird idealerweise nur zwei Mal im Leben verabreicht und wirkt danach sehr langanhaltend. Es setzt das geschädigte Immunsystem von MS-Patienten zurück auf „Null“ und baut es dann wieder so auf, dass es funktioniert. Die beschriebenen Nebenwirkungen, auch „sekundäre Autoimmunität“ genannt, treten aber oft erst langfristig auf, zumeist zwei bis drei Jahre nach der Erstgabe. Da ist es für eine Therapieumstellung zu spät. Das Ziel muss daher sein, die Nebenwirkung frühzeitig zu erkennen und optimal zu behandeln. Dafür ist es entscheidend zu verstehen, was im Immunsystem des einzelnen Patienten abläuft, bevor er oder sie Nebenwirkungen entwickelt. „Neben der grundsätzlichen Entscheidung für oder gegen das Medikament ist der wohl kritischste Zeitpunkt das erste Jahr. Hier wäre es enorm wichtig, wenn wir das Risiko einer sekundären Autoimmunität erkennen oder einschätzen könnten“, erläutert Priv.-Doz. Tobias Ruck. Er arbeitet als Oberarzt in der Neurologie des Universitätsklinikums Düsseldorf, hat die jetzt publizierte Studie aber noch in seiner Zeit in Münster betreut.

Wie stellt man fest, ob jemand Gefahr läuft, sekundäre Autoimmunität zu entwickeln? Ruck und sein Team fanden einen Weg: Über zwei Jahr hinweg beobachteten sie Veränderungen in Blut- und Nervenwasser-Komponenten von MS-Patienten vor und nach einer Alemtuzumab-Behandlung. Dabei konzentrierten sie sich auf den kritischen Zeitpunkt gegen Ende des ersten Therapiejahres. Die Arbeitsgruppe verwendete Methoden der „nächsten Generation immunologischer Analysen“, wie Prof. Heinz Wiendl, Direktor der neurologischen Uniklinik in Münster, beschreibt. Gemeint ist beispielsweise die tiefgehende Untersuchung verschiedenster Immunzellen mittels Durchflusszytometrie. Derart lassen sich Art und Funktionsweise zahlreicher Immunzelltypen im Blut oder Liquor in Minutenschnelle untersuchten.

Parallel betrachteten die Neurowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler lösliche Proteine im Serum und Nervenwasser, um deren die T- und B-Zellrezeptoren zu charakterisieren – sie sind so etwas wie der Fingerabdruck dieser Zellen. Die Kombination der Daten verschaffte den Forschenden einen umfassenden Einblick in die immunologischen Prozesse und die Dynamik, die eine Therapie mit Alemtuzumab in Blut, Liquor und dem Zentralen Nervensystem auslöst. Wichtigstes Ergebnis: Die T- und B-Zellen, die später für die Entstehung der sekundären Autoimmunität verantwortlich waren, konnten schon vor der Therapie gefunden werden. Indem Alemtuzumab wirkt, hebt es die Fähigkeit des Immunsystems auf, diese ungünstige Ausgangssituation in Schach zu halten, so der Erklärungsansatz. Auf den Punkt gebracht: Das Medikament ist nicht Verursacher der sekundären Autoimmunität, sondern bewirkt, dass sie durch eine Einschränkung der Immunregulation bei einigen Menschen zutage tritt.

„Man kann sich das vorstellen wie bei einem Teller mit einem Sprung. Der kann zerbrechen, wenn man ihn nur leicht anschlägt“, erläutert Dr. Andreas Schulte-Mecklenbeck, einer der Autoren der aktuellen BRAIN-Publikation. „Durch unsere Analysen sind wir dem Verständnis der Prozesse, die zur sekundären Autoimmunität führen, ein großes Stück näher gekommen“, freut sich Prof. Wiendl. Doch nicht nur das: Nach Einschätzung des Studienteams kann das Repertoire an Antigen-Rezeptoren auf T- sowie B-Zellen Grundlage sein für eine Art Test, mit dem sich schon vor der Therapie das Risiko schwerer Nebenwirkungen einschätzen lässt.

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