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Neurodegenerative Erkrankungen: MPI Münster entwickelt stammzellbasierten Test für schützende Substanzen bei ALS

Motoneurone im Testverfahren: links gesunde Motoneurone in der Petrischale, rechts degenerierte Motoneurone nach Zugabe von aktivierten Mikrogliazellen (Foto: MPI Münster / S. Höing)

Münster (mpi) - Wissenschaftler um Hans Schöler vom Max-Planck-Institut (MPI) für molekulare Biomedizin in Münster haben ein stammzellbasiertes Testverfahren für die neurodegenerative Erkrankung Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) entwickelt. Sie fanden unter Zehntausenden chemischen Verbindungen Substanzen, die die von ALS betroffenen motorischen Nervenzellen schützten. Diese jetzt in „Cell Stem Cell“ publizierten Ergebnisse sind gleich zweifach bedeutsam: Zum einen eröffnet das Testverfahren mit Stammzellen neue Wege in der Medikamentenforschung und zum anderen könnten die entdeckten Substanzen bei vielen neurodegenerativen Krankheitsbildern schützend wirken. Das geplante Stammzellreferenzzentrum CARE in Münster soll Schmiede für diese Art von Projekten werden.
Dr. Jared Sterneckert, Gruppenleiter in der Abteilung von Professor Dr. Hans Schöler am Max-Planck-Institut für molekulare Biomedizin, und seine Mitarbeiterin Susanne Höing haben mit Stammzellen ein innovatives Testverfahren entwickelt, in dem die pathologischen Prozesse der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) in der Petrischale nachgeahmt werden. „Durch die Verwendung von Stammzellen können wir erstmalig die notwendigen großen Mengen der bisher für Arzneimittelforschung nicht verfügbaren Motoneuronen bereitstellen. Dieses Testverfahren ist sehr robust und ermöglicht die Suche nach neuen Wirkstoffen ohne vorherige Kenntnisse der zugrundeliegenden Krankheitsmechanismen. Dies ist der Fall bei vielen chronisch oder fatal verlaufenden neurodegenerativen Erkrankungen“, so Sterneckert.
Amyotrophe Lateralsklerose ist eine unheilbare, degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Aus unbekannter Ursache sterben die Nervenzellen, die für Muskelbewegungen verantwortlich sind (Motoneurone). Durch die Degeneration der Motoneurone kommt es zur zunehmenden Muskelschwäche und diese führt letztendlich zum Tod.
Da die Ursache von ALS unbekannt ist, ist es unmöglich, gezielt Medikamente gegen diese Krankheit zu entwickeln. Krankheiten wie ALS können jedoch von so genannten phänotypischen Screenings profitieren. Bei dieser Art von Medikamentenforschung wird beobachtet, ob eine Substanz eine positive Wirkung auf das Überleben der Motoneurone hat. In Zusammenarbeit mit u. a. der Biotechnologie-Firma Evotec AG testeten Höing und Sterneckert mehr als 11.000 Substanzen und fanden interessante Wirkstoff-Kandidaten, die einen schützenden Effekt auf die Nervenzellen hatten.
Was so einfach klingt, ist das Ergebnis jahrelanger Tüftel-Arbeit auf zellulärem Niveau. Die Forscher mussten gleich drei verschiedene Zelltypen so zusammenbringen, dass sie auf verlässliche Weise die Krankheit widerspiegeln: 1) Motoneurone, das sind die Nervenzellen, die die Bewegungen der Muskeln ansteuern und die bei ALS absterben, 2) Astrozyten, die als Unterstützungszellen dienen, und 3) die sogenannten Mikrogliazellen, welche die Immunabwehrzellen des zentralen Nervensystems darstellen. Denn das Krankheitsbild von ALS beruht auf einer Entzündung im zentralen Nervensystem. Bei Aktivierung der Mikrogliazellen werden Substanzen ausgeschüttet, die für die Nervenzellen toxisch sind.
In dem stammzell-basierten Testverfahren fanden Sterneckert und Höing 37 Substanzen, die ein Absterben von Motoneuronen verhinderten. Nach verschiedenen Selektionsverfahren blieben 12 Substanzen übrig, die auch nach Wiederholung der Experimente die besten Ergebnisse lieferten. Die Wirkungsweise der Substanzen ist sehr unterschiedlich: „Einige der Wirkstoffkandidaten wirkten protektiv auf die Motoneurone, andere verhinderten die Entstehung von schädlichen Abbauprodukten. Und vier der Substanzen begünstigten einen wichtigen anti-oxidativen Mechanismus der Zellen“, so Höing. „Weil dieser Mechanismus nicht nur bei ALS, sondern auch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen wie der Parkinson- und Alzheimer-Krankheit oder der Multiplen Sklerose, eine Rolle spielt, haben diese Wirkstoffkandidaten großes Potential für eine breite Palette von Erkrankungen“, erläutert Höing.
Bis die Substanzen klinisch verwendet werden können, müssen sie noch viele Tests durchlaufen. Solche weiterführenden Untersuchungen, nicht nur für ALS, aber auch für andere Erkrankungen, brauchen einen besonderen Rahmen, denn sie gehen über die Grundlagenforschung hinaus. Das geplante Stammzellreferenzzentrum CARE (für „Center for Advanced Regenerative Engineering“) soll Schmiede für solche zukunftsträchtigen Projekte werden. „CARE ist ein so genanntes translationales Forschungszentrum, in dem Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung nachhaltig gemeinsam mit der Wirtschaft so weiter entwickelt werden sollen, dass sie Patienten einen echten Nutzen in Form neuen Therapie- und Diagnoseverfahren bringen“, sagt Dr. Ulrich Gerth, designierter Geschäftsführer von CARE. „Die hier identifizierten Wirkstoffmoleküle versprechen neuroprotektiv zu sein, d. h. dass sie die Nervenzellen vor dem zerstörerischen Krankheitsverlauf schützen. Ein solcher Wirkstoff wäre einzigartig und wirklich innovativ. Dieser besondere Wert wird auch von nach Medikamenten forschenden Unternehmen bestätigt. Man hat uns daher bereits heute um Kooperationen angegangen.“

Originalveröffentlichung:
Susanne Höing, York Rudhard, Peter Reinhardt, Michael Glatza, Martin Stehling, Guangming Wu, Christiane Peiker, Alexander Böcker, Juan A. Parga, Eva Bunk, Jens C. Schwamborn, Mark Slack, Jared Sterneckert, Hans R. Schöler
Discovery of inhibitors of microglial neurotoxicity acting through multiple mechanisms using a stem cell-based phenotypic assay
Cell Stem Cell, online vorab 11. Oktober 2012, doi:10.1016/j.stem.2012.07.005

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