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Virtuelles Lernen, damit es den echten Patienten umso besser geht: WWU Münster setzt auf ein Medizinstudium in neuer Dimension

Informatik-Doktorandin Jacqueline Kockwelp, eine der Programmiererinnen des Projektes, verfolgt an ihrem Regiepult das Geschehen in den „Krankenzimmern“ und parallel auf dem Bildschirm die virtuelle Realität, die die Studierenden selbst sehen (Foto: WWU/Thomas Hauss)

Auf einem Bildschirm können die Lehrkräfte mitverfolgen, wie die Studierenden mit der virtuellen Umgebung interagieren (Foto: WWU/Thomas Hauss)

Prof. Bernhard Marschall und Prof. Benjamin Risse (Hintergrund, per Videokonferenz zugeschaltet) stellten das neue Lehrprojekt den Medien vor (Foto: WWU/Thomas Hauss)

Münster (mfm/tb) – Die Patientin im Bett blickt ins Nichts. Die neben ihr stehende Studentin greift nach der Taschenlampe und leuchtet in die starren Augen. Keine Reaktion. Sie trennt nach umsichtiger Vorbereitung die Patientin von der Beatmungsmaschine. Erneut: keine Reaktion, der Atmungsreflex bleibt aus. Für die junge Frau ist klar: Hier kann niemand mehr helfen. Und auf sie selbst kommt nun die schwere Aufgabe zu, dies den Angehörigen zu erklären. Was die Medizinstudentin gerade durchlebt, ist regulärer Teil ihrer Ausbildung – und dennoch hoch innovativ. Denn die Taschenlampe gibt es nicht, die Beatmungsmaschine ebenfalls nicht, und auch die Patientin existiert nur im Kopf des Betrachters: Mit einem Kurs über die Diagnostik der Hirnfunktionen steigt die Westfälische Wilhelms-Universität Münster (WWU) in eine neue Dimension des Medizinstudiums ein - nämlich in die Welt von Virtual Reality (VR) und Künstlicher Intelligenz (KI).

Seit Mittwoch durchlaufen 155 Studierende des „Henry-Dale“-Semesters (7. Fachsemester) ein Lehrmodul zur Transplantationsmedizin. Allerdings kommt dabei nur die Hälfte davon mit Virtual Reality in Berührung: Die anderen Ärztinnen und Ärzte in spe lernen ganz klassisch an Phantomen, also an lebensnahen Puppen. Die Aufteilung in zwei Gruppen erfolgt, um den Lerneffekt vergleichen und mit einer Begleitstudie wissenschaftlich auswerten zu können. Für das nächste Semester arbeiten Anna Schloßbauer (Ärztliche Leitung) und der Informatiker Pascal Kockwelp (Technik) bereits an einem weiteren Kurs; es geht um die Diagnose von Hauterkrankungen. Doch beide Veranstaltungen sind nur ein Einstieg in ein Medizinstudium 2.0: „Was wir anstreben, reicht erheblich weiter“, sagt Prof. Bernhard Marschall.

Der Chirurg ist Studiendekan der Medizinischen Fakultät der WWU und zugleich Direktor des dortigen Instituts für Ausbildung und Studienangelegenheiten (IfAS). Unter dessen Federführung startet jetzt ein Verbundprojekt, das eine Laufzeit von vier Jahren hat und für das die Bund-Länder-Förderinitiative „Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung“ rund 2,6 Mio. Euro bereitstellt. Das Vorhaben mit dem Titel „medical tr.AI.ning – Intelligente Virtuelle Agenten für die Medizinische Ausbildung“ zielt ab auf den Aufbau einer KI-basierten Simulations- und Trainingsplattform. Sie soll das „clinical reasoning“ - das klinisch orientierte logische Denken - angehender Medizinerinnen und Mediziner stärken, indem diese in der Ausbildung mit lebensnahen Virtual-Reality-Simulationen konfrontiert werden. „Wir erweitern die didaktischen Möglichkeiten sowohl in der Breite, als auch in der Tiefe“, erläutert Marschall – und spielt damit auch auf den Lehrbetrieb im „Studienhospital Münster“ (SHM) an.

Als das 2007 in Betrieb ging, wurde es schnell zum Vorbild für ähnliche Einrichtungen an allen Standorten der deutschen Universitätsmedizin. Im SHM werden Studierende der Medizin in realitätsgetreuen Umgebungen - wie Krankenhauszimmer oder einer Hausarztpraxis – und mit Hilfe von Simulationspatienten auf ihren späteren Beruf vorbereitet. Fehler sind erlaubt – und wegen des Lerneffekts durchaus erwünscht. Aber das innovative Konzept hat Grenzen: Nicht alle Symptome oder Krankheitsbilder lassen sich von den rund 140 Schauspielerinnen und Schauspielern darstellen, die im SHM im Einsatz sind. Zudem gibt es für die Akteure weitere Grenzen, wie die Zurschaustellung des Intimbereiches, die Darstellung von entstellenden Krankheitsbildern, wie Amputationen oder großflächige Hautveränderungen. Auch die sichere Feststellung des Ausfalls der Hirnfunktionen lässt sich naturgemäß nicht an lebenden Menschen trainieren. Alles Dinge, Ärztinnen und Ärzte sicher beherrschen müssen.

„Ärztinnen und Ärzte werden unmittelbar mit Beginn ihrer Laufbahn mit komplexen Situationen konfrontiert und müssen unter herausfordernden Bedingungen weitreichende Entscheidungen treffen. VR und KI helfen uns, die Studierenden hierauf vorzubereiten“, erläutert Studiendekan Marschall. Weniger die einzelne Fachfrage stehe dabei im Mittelpunkt denn vielmehr die Fähigkeit, die richtige Entscheidung zu treffen. Nur die wenigsten Mediziner würden in ihrem Berufsleben tatsächlich mit einem Hirntod konfrontiert – „aber gerade, weil es sich um eine Extremsituation handelt, eignet diese sich in besonderem Maße für die Berufsvorbereitung, in fachlicher, kommunikativer, berufsethischer und sozialer Kompetenz.“

Der Anspruch von „medical tr.AI.ning“ (das versale AI steht für „Artificial Intelligence“, deutsch: künstliche Intelligenz) ist aber nicht nur, die Grenzen dessen zu erweitern, „was im situativen Lernen darstellbar ist“, wie Marschall es ausdrückt. Intelligente und interaktive VR-Agenten sollen für die Studierenden künftig als Interaktionspartner fungieren. KI-Algorithmen sollen die Funktionalität und Vielfalt der VR-Agenten steuern und durch interaktive Szenarien das Erleben und Erlernen alltäglicher und hochspezieller Situationen sowie die Anwendung ärztlicher Kernkompetenzen erlauben. Und nicht zuletzt: „Langfristig wollen wir den Medizin-Didakten eine Werkzeug-Box in die Hand geben, die zuvor mit Künstlicher Intelligenz gefüttert wurde“. Derart sollen die Hochschullehrerinnen und -lehrer in die Lage versetzt werden, Änderungen einzubinden oder selbst neue Szenarien zu entwickeln. Denn: Bisher ist die virtuelle Realität eine, die - buchstäblich – teuer erkauft werden muss. Die Programmierung und das Design sind individuelle händische Tätigkeiten und entsprechend aufwändig.

Um die ambitionierten Projektziele zu erreichen, ist das IfAS Teil eines starken Verbundes. Aus der eigenen Universität steht den Medizinern Prof. Benjamin Risse (Arbeitsgruppe „Computer Vision and Machine Learning Systems“) vom Fachbereich Mathematik und Informatik zur Seite. Er verantwortet das technische Know-how und Programmierungen. Aus Münster ist des Weiteren die dortige Fachhochschule beteiligt, in Form des Fachbereiches Design. Aus dem Südwesten der Republik kommen die Universität des Saarlandes und die Hochschule der Bildenden Künste Saar hinzu; sie bilden zugleich eine inhaltliche Brücke zum Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz (DFKI), das in Saarbrücken einen seiner großen Standorte hat. Von der Gesamtfördersumme fließen rund 1,5 Mio. Euro an diese Partner und der Rest an die WWU.

Zur Förderinitiative „Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung“

Mit ihrer Initiative wollen der Bund und die Länder KI in der gesamten Breite des Hochschulsystems stärken. Ziel der Förderung ist einerseits die Qualifizierung von zukünftigen akademischen Fachkräften durch die Implementierung von KI als Studieninhalt, beispielsweise durch die Entwicklung von Studiengängen oder einzelnen Modulen. Andererseits werden Hochschulen bei der Gestaltung von KI-gestützten Lern- und Prüfungsumgebungen gefördert. Über die Auswahl der Anträge entschied ein 32-köpfiges Gremium unter dem Vorsitz von Dr. Andrea Grimm (Aufsichtsrat IBM Deutschland GmbH), der Prof. Gesche Joost (Universität der Künste Berlin) und Prof. Manfred Prenzel (Universität Wien) als stellvertretende Vorsitzende zur Seite standen.

Link: Förderinitiative "Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung"

Link: Institut für Ausbildung und Studienangelegenheiten

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