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Ursachenforschung an einem „stotternden“ Gen: Studie zu neuem Wirkstoff gegen Huntington

Dr. Ralf Reilmann im Beratungsgespräch (Foto: FZ)

Münster (mfm/pc) - Für Menschen mit der Erbkrankheit Huntington könnte ein Traum wahr werden: Erstmals führen Mediziner der Universität Münster eine Studie mit einem Medikament durch, von dem sie annehmen, dass es den Verlauf der Erkrankung bremsen oder deren Ausbruch verzögern kann. Gemeinsam mit einem italienischen Biotech-Unternehmen untersuchen sie eine neue Substanz, die in präklinischen Studien bereits ihre bremsende Wirkung gezeigt hat. Dr. Ralf Reilmann ist daher zuversichtlich: „Diesmal ist der Durchbruch greifbar nahe. Es wäre das erste Mal, dass eine neurodegenerative Erkrankung ursächlich behandelt werden kann.“
Huntington, früher auch Veitstanz genannt, ist eine schwere und komplexe Erkrankung des Gehirns. Meist haben die Patienten einen langen Leidensweg und versterben später an den Folgen dieser Krankheit. „Die Betroffenen fallen durch unkontrollierte Bewegungen, insbesondere Zuckungen, auf, was sozial sehr stigmatisierend ist“, erklärt Reilmann, der die Huntington-Arbeitsgruppe an der münsterschen Uni-Klinik für Neurologie (Direktor: Univ.-Prof. Dr. Dr. Ringelstein) leitet. „Mit der Zeit können sie sich immer schlechter konzentrieren und sich nichts mehr merken. Oft kommen auch psychiatrische Symptome hinzu. Die Patienten werden zum Beispiel depressiv oder zeigen eine erhöhte Reizbarkeit.“
Huntington ist die häufigste autosomal-dominante, neurodegenerative Erbkrankheit. Durchschnittlich die Hälfte der Nachfahren eines Erkrankten erbt das Gen und gibt es mit der gleichen Wahrscheinlichkeit an die nächste Generation weiter. Nach Angaben Reilmanns leben in Westeuropa etwa 45.000 Menschen, die Symptome der Erkrankung zeigen; hinzu kommen weitere 120.000, die das Gen zwar in sich tragen, aber noch nicht sichtbar erkrankt sind.
In den vergangenen Jahren konnten die Münsteraner gemeinsam mit Forscherkollegen weltweit neue Erkenntnisse über die Ursachen sammeln: Ähnlich wie bei der Alzheimer- und der Parkinson-Krankheit lagern sich bei der Huntington-Krankheit im Gehirn der Betroffenen bestimmte Proteine als „Klumpen“ ab, was dazu führt, dass zunehmend Nervenzellen absterben. Während jedoch bei anderen neurodegenerativen Erkrankungen die dafür verantwortliche Ursache noch nicht dingfest gemacht werden konnte, ist es bei der Huntington-Krankheit ein bekannter Gendefekt.
Das kranke Gen liegt am Ende des kurzen Arms von Chromosom 4 und trägt die Bauanleitung für das Protein Huntingtin. In einem Abschnitt des Gens wiederholt sich immer wieder die Abfolge der Basen Cytosin (C), Adenin (A) und Guanin (G), der genetische Code „stottert“ sozusagen. „Auch bei gesunden Menschen kommt diese Wiederholung der CAG- Basen zwischen zehn und dreißig Mal vor. Bei erkrankten Menschen findet man aber 36 und mehr Wiederholungen“, erläutert Dr. Reilmann. „Erst seit Kurzem wissen wir, dass sich bei der Replikation der DNA in Eizellen und Spermien diese Kette auch spontan bei gesunden Menschen in den krankhaften Bereich verlängern und somit die Erkrankung in der nächsten Generation erstmals auftreten kann.“
Münster – Huntington: Inzwischen ist diese Verbindung in den Köpfen der Patienten-Organisationen in ganz Deutschland und auch darüber hinaus verankert. „Der Einzugsbereich der Patienten, die uns persönlich aufsuchen, reicht von Flensburg über Thüringen bis Rheinland-Pfalz. Damit betreuen wir meines Wissens zurzeit eine der größten Gruppen von Huntington-Betroffenen weltweit“, berichtet Reilmann. Doch nicht nur das. Mit Hilfe des Europäischen Huntington-Netzwerks (www.euro-hd.net) haben die Münsteraner über mehrere Jahre international vernetzte wissenschaftliche Projekte mit Huntington-Patienten durchgeführt und koordiniert. Als Leiter der Arbeitsgruppe „Neuroprotektive Therapie“ ist Dr. Reilmann einer der zentrale Akteure des Netzwerks.
Das neue Medikament wurde bereits in einer ersten Studie (Phase I) mit 50 Patienten über zwei Wochen erprobt – mit ersten positiven Befunden, was die Sicherheit und Verträglichkeit der Substanz betrifft. Im Dezember 2011 hat die zweite Phase der Studie begonnen, die der münstersche Experte als koordinierender Hauptprüfarzt („Global Principle Investigator“) leitet: An dem Projekt nehmen 150 Patienten in insgesamt 19 europäischen Studienzentren teil. „Hier geht es noch in erster Linie um die Sicherheit des Präparats, aber auch schon um erste Anzeichen seiner Wirksamkeit“, erklärt Reilmann.
„Wenn die jetzige Studie positiv verläuft, planen wir 2013 mit einer zwei- bis dreijährigen Phase-III-Studie fortzufahren, in die weltweit etwa 500 Patienten einbezogen werden.“ Dabei stehe dann die Wirksamkeit des neuen Medikaments im Mittelpunkt. „Wir sind schon ein bisschen stolz darauf, dass diesmal wir Europäer die Nase vorn haben und nicht unsere amerikanischen Kollegen in Harvard oder Stanford“, räumt der Wissenschaftler ein.
Stück für Stück haben Reilmann und seine Mitarbeiter sich in den vergangenen Jahren bei der Erforschung der schweren Erbkrankheit an die Weltspitze herangearbeitet. Zusätzlich zur finanziellen Unterstützung durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Medizinische Fakultät der Uni Münster gelang es dem Team, dem außer Reilmann derzeit noch zwei weitere Neurologen und ein Assistenzarzt angehören, bisher rund eineinhalb Millionen Euro von der US-amerikanischen Stiftung „Cure Huntington’s Disease Initiative“ einzuwerben. Bis heute finanziert sich die Arbeitsgruppe ausschließlich aus Drittmitteln, nutzt jedoch die hoch modernen diagnostischen Geräte und Labors und das Know-how auch anderer Uni-Kliniken, wie Nuklearmedizin, Radiologie und Humangenetik. Zudem arbeitet sie eng mit den Stammzellforschern des Max-Planck-Instituts für molekulare Biomedizin in Münster zusammen.
Sollte sich das neue Medikament gegen Huntington als wirksam erweisen, profitierten davon nicht nur bereits erkrankte Patienten, sondern möglicherweise auch Träger des kranken Gens. Bei ihnen ließe sich der Ausbruch der Erkrankung eventuell verzögern, wenn nicht gar verhindern. „An Huntington erkrankte Menschen leben häufig in psychischer Isolation und Angst“, weiß Dr. Ralf Reilmann. Bei den Patienten, die im Huntington-Zentrum Münster Hilfe suchen, setzt seine Arbeitsgruppe daher auf intensive Betreuung, damit diese wieder neuen Mut schöpfen können.

Dr. Ralf Reilmann in der Forschungsdatenbank CRIS@WWU

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